Aber wie gesagt: Es sind beide Varianten möglich, insbesondere abhängig von ihrer Start‐Position. Neue Wachstumsmärkte lassen sich gut direkt im Next‐Level‐Sales‐Modell (von der Pike auf) aufbauen, wohingegen Bestandsteams gegebenenfalls umgeschult werden müssen.
1.3 Anforderungen des Kunden an den Vertrieb in der heutigen Zeit
Viele Unternehmen, insbesondere im B2B‐Umfeld, lassen einen entscheidenden Aspekt in der Planung des Verkaufsprozesses leider außen vor: den Kunden. Dafür gibt es nach meiner persönlichen Erfahrung unzählige Beispiele. Das klassische, das ich häufig beobachten »durfte«, ist, dass Produktneuheiten ohne jedwede Rücksprache mit dem Kunden entwickelt wurden und somit das Produkt leider unverkäuflich war. Häufig werden auch keine cNPS‐Umfragen gemacht, mit denen man verstehen könnte, wie glücklich eigentlich unsere Kunden mit unserem Umgang im Vertrieb und so weiter sind. Am Ende des Kaufentscheidungsprozesses steht allerdings genau dieser Kunde im Mittelpunkt und trifft eine Entscheidung. Das macht ihn zum wichtigsten Glied in der Kette und Verkaufsprozesse sollten dahingehend optimiert werden.
In vielen Unternehmen verlässt man sich darauf, dass die Vertriebler die Bedürfnisse des Kunden kennen und somit als sein Sprachrohr fungieren. Sagt ein Vertriebler beispielsweise Folgendes: »Ich habe gestern mit Herrn Meyer aus der Mustermann‐Firma gesprochen und er möchte mich unbedingt persönlich treffen«, heißt das übersetzt vermutlich: »Ich würde Herrn Meyer gerne persönlich treffen, da ich nicht weiß, wie ich sonst weitere Verkäufe erzielen soll.« Oder es bedeutet »Ich habe die letzten 20 Jahre meine Kunden persönlich besucht und deshalb mache ich es auch die nächsten 20 Jahre so.« Diese Einschätzung und das Handeln eines Vertrieblers sind allerdings damit nicht immer auf die Bedürfnisse und Meinungen des Kunden ausgerichtet, sondern auf die des Vertrieblers selbst. In einem wettbewerbsstarken Markt kann dieser Bias jedoch explizite Nachteile haben. Studien zeigen, dass Kunden mittlerweile hohen Wert auf digitale Medien und Treffen legen, wie bereits Abbildung 1.4 verdeutlicht hat. Diese unterschiedlichen Vorstellungen können zu Konflikten führen beziehungsweise zu einer Kundenabwanderung zur Konkurrenz.
Am Ende trifft der Kunde die Kaufentscheidung und im Vergleich zu einer Welt von vor 20 Jahren ist diese Kaufentscheidung nicht von einer Firma abhängig. Kunden können heutzutage schnell und einfach zu einem Wettbewerber wechseln. Aus diesen Gründen ist es essenziell, den Verkaufsprozess beim Kunden zu starten und den Kunden sowie seine Bedürfnisse im Detail zu verstehen.
Kundenbedürfnisse unterscheiden sich von Industrie zu Industrie. Nichtsdestotrotz gibt es einige allgemeine Punkte, die dem heutigen modernen Kunden jeder Branche wichtig sind. Im Folgenden betrachten wir diese Aspekte genauer und erläutern, warum sie die perfekte Basis für den digitalen Verkaufsprozess sind.
Typischerweise legt der Kunde im Verkaufsprozess auf die folgenden Aspekte Wert:
1 Flexibilität,
2 Schnelligkeit und Agilität,
3 eine positive Kauf‐ und Serviceerfahrung und
4 ein gutes Preis‐Leistungs‐Verhältnis.
Abhängig von der Art des Produkts kommen noch weitere produktspezifische Aspekte hinzu, wie zum Beispiel auf den Kunden perfekt zugeschnittene Lösungen. Jedoch betrachten wir hier nur die oben genannten wichtigsten Punkte im Rahmen des Verkaufsprozesses.
Flexibilität im Verkaufsprozess
Der Kunde erwartet aufgrund von wechselnden und steigenden Anforderungen Flexibilität im Verkaufsprozess. Was ist mit »Flexibilität im Verkaufsprozess« gemeint? Der Kunde wünscht sich pragmatische Lösungen, »ease of making business«. Ein Beispiel, bei dem Kunden sich diese Flexibilität wünschen, ist das unkomplizierte Verschieben eines Verkaufstermins um beispielsweise eine Woche. In der heutigen, schnelllebigen Zeit kann das auch bedeuten, dass ein Termin, der in 30 Minuten stattfinden soll, kurzfristig verschoben wird. Diese Kurzfristigkeit und Flexibilität ist in der digitalen Welt keine Herausforderung. Allerdings stellt dies Vertriebler aus der analogen Welt, die seit zwei Stunden in der Anreise zu einem Termin sind, vor ein enorm großes Problem und führt zu Leerfahrten. Flexibilität hängt auch oft direkt mit Schnelligkeit und Agilität zusammen.
Schnelligkeit und Agilität
Was machen wir, wenn der Kunde ein kurzfristiges Meeting benötigt, weil ein Mitbewerber ein sehr gutes Angebot auf den Tisch gelegt hat? Warten wir auf den physischen Termin, der persönlich in einer Woche stattfinden kann, oder können wir sofort verfügbar sein? Können wir agil auf die Bedürfnisse des Kunden eingehen?
Die Vorzüge von digitalen Meetings möchte ich anhand eines konkreten Beispiels verdeutlichen. Im Verkaufsgespräch bemerkt der Vertriebler, dass der Kunde einen bestimmten Produktexperten benötigt, um eine Verkaufsentscheidung zu treffen. In der analogen Welt müsste der Vertriebler zurück ins Büro fahren, sich mit dem Produktexperten abstimmen und potenzielle Termine raussuchen, um anschließend eine gemeinsame Anreise zu planen und zu buchen. Dieser Prozess inklusive der Verfügbarkeiten kann schnell drei bis vier Wochen dauern. Bis dahin könnte der Kunde bereits zur Konkurrenz abgewandert sein oder er müsste eventuell erneut von dem Produkt überzeugt werden. In digital unterstützten Gesprächen können weitere Personen mit einem Klick zu einer Besprechung hinzugefügt werden. In dem konkreten Beispiel könnte man somit den Produktexperten vielleicht sogar direkt in der Videokonferenz hinzuholen und die Produktfragen des Kunden beantworten (wenn er zu dem Zeitpunkt verfügbar ist). Zur Not setzt man eine Folge‐Videokonferenz für den nächsten Tag an und bittet den Produktexperten hinzu. Diese Schnelligkeit und Kundenorientierung wird in Zukunft noch viel mehr Kaufentscheidungen beeinflussen, als es ohnehin heute schon passiert, denn Kunden lieben schnelle Antworten und schnelle Lösungen. Das Unternehmen, das die beste Kundenerfahrung bietet, erhält in den meisten Fällen den Zuschlag. Der Preis ist ein spannendes Entscheidungskriterium, aber letztendlich entscheidet die Kundenerfahrung. Es gilt, sich den Bedürfnissen des Kunden anzupassen und schneller und digitaler zu sein als der Wettbewerber. Wer kennt sie nicht, die »Horror‐Stories« der Unternehmen, die die Digitalisierung verpasst haben, wie beispielsweise Kodak, Quelle oder Nokia?
Kodak hat nicht auf die Digitalisierung der Fotoapparate gesetzt, sondern darauf vertraut, dass Kunden weiterhin Filme nutzen werden. Das war nicht besonders weitsichtig und kundenorientiert, denn ist es nicht klasse für den Kunden, direkt zu sehen, ob das Foto vom Familienurlaub etwas geworden ist, und zur Not noch eins zu machen? Was viele nicht wissen, ist, dass es tatsächlich ein Kodak‐Mitarbeiter war, der die erste digitale Kamera erfunden hat. Aber das Management war nicht begeistert von der Idee, da Kodak sehr gut an den Filmen verdient hat. Ende der 1970er‐Jahre hatte Kodak einen Marktanteil bei Filmen und Kameras von circa 80 bis 90 Prozent. 2012 folgte die Insolvenz.
Quelle, das ehemals größte Versandhaus Europas, hat eindeutig zu lange auf den gedruckten Katalog (»der Quelle‐Katalog«) gesetzt, sich der Digitalisierung verwehrt und wurde von Amazon abgelöst. Die Insolvenz folgte 2009. Dass eine Digitalisierung und ein Umbau möglich sind, bewies oder beweist hingegen Otto bis heute: Auch bei Otto ist noch bis 2018 ein Katalog gedruckt worden, aber immerhin fing Otto 1995, also noch bevor Amazon sein Geschäft in Deutschland startete, an, seinen Katalogen CDs beizulegen, um den Kunden auf dem Weg in das digitale Bestellen zu helfen.
Nokias Marktanteile entwickelten sich von 50 Prozent in 2007 auf circa fünf Prozent in 2012. Nokia gehörte in den 2000er‐Jahren zu den zehn wertvollsten Marken der Welt, bis das digitalere, benutzerfreundlichere iPhone die Nokia‐Handys verdrängte.
Die Digitalisierung des Vertriebs mag nicht genauso extrem sein, aber versetzen Sie sich in die Rolle