Ein wichtiger Hinweis für HR‐Abteilungen und ‐Prozesse ist auch, dass es mehrere Fälle gab, in denen sich Bewerber gegen ein Unternehmen entschieden haben, da dieses darauf bestand, auch während Corona persönliche Interviews durchzuführen. Schlussfolgernd lässt sich klar sagen: Der Kunde gewinnt durch die digitalen Kanäle, da es für ihn einfacher und effizienter ist, auf diesem Weg mit Zulieferern und Unternehmen zu interagieren. Für den Kunden sind die höhere Flexibilität, Erreichbarkeit, Schnelligkeit und die bestmögliche Kauferfahrung wichtige Kriterien.
Die Vertriebler
Der zweite große Gewinner des Wandels sind die Vertriebler selbst. Sie profitieren von der Umstellung auf digitale Strukturen, weil sie ihren Arbeitstag deutlich effizienter gestalten und mehr Kundeninteraktionen pro Tag realisieren können. Fahrtzeit ist häufig der größte Aktivitätsblock von Vertrieblern, die im Schnitt 50 Prozent ihrer Zeit im Transit verbringen. In digitalen Strukturen entfällt dieser Zeit‐ (und Kosten‐)block, sodass Zeit und Kapazitäten für andere Tätigkeiten freigesetzt werden. Zudem reduzieren virtuelle Interaktionen zusätzlich das Risiko von »Leerfahrten«. Sogenannte Leerfahrten sind Termine, an denen der Vertriebler (im schlimmsten Fall mehr als 100 km) zum Kunden gefahren ist und dieser kurzfristig den Termin absagt, als der Vertriebler bereits vor Ort ist oder unterwegs war.
Kundeninteraktionen können somit häufig um das fünf‐ bis zehnfache gesteigert werden. Aufgrund der erhöhten Anzahl der Interaktionen kann der Vertriebler außerdem typischerweise deutlich von der höheren Frequenz profitieren, da in Summe mehr Verträge in der gleichen Zeit abgeschlossen werden können. Eine Studie von Simon Kucher & Partners zeigt dazu passend, dass bei dem typischen »Nicht‐Next‐Level‐Sales‐Vertriebler«12 50 Prozent der Arbeitszeit als Reisezeit angefallen ist.13 Wenn man die Reisezeit zu 100 Prozent in Arbeitszeit umwandeln könnte, ließe sich eine Effizienzsteigerung von 100 Prozent pro Vertriebler erreichen. Dies ist allerdings ein wenig hoch gegriffen. Wie hoch dieser Wert nun exakt ist, wird im Verlaufe des Buches beleuchtet.
Mit der durch COVID‐19 forcierten Umstellung auf digitale Vertriebskanäle haben sich Video‐ und Live‐Chat zu den vorherrschenden Kommunikationskanälen für die Interaktion und den Abschluss von Verkäufen mit B2B‐Kunden entwickelt. Persönliche Besprechungen und damit verbundene Vertriebsaktivitäten sind stark zurückgegangen. Abbildung 1.3 zeigt die deutliche Verschiebung hin zu den nicht‐traditionellen Kanälen im Rahmen von Interaktionen.
Abb. 1.3: Veränderung der Go‐to‐market‐Vertriebskanäle während COVID‐19
Über nicht‐traditionelle Kanäle, davon insbesondere Video, erfolgt ein Großteil der Interaktionen. Darüber hinaus wird die interne und externe Kommunikation über Video (zum Beispiel über Zoom, Skype, WebEx, MS Teams) im Gegensatz zum Telefon von Vertriebler und Kunden bevorzugt – sowohl als kollaboratives Tool zur Unterstützung der Team‐Arbeit als auch in der Kommunikation mit Neu‐ und Bestandskunden. Abbildung 1.4 zeigt diese Präferenz zum Videokontakt sehr deutlich. Die gestellte Frage in der zu Grunde liegenden McKinsey‐Studie14 war, die Präferenz für Videotelefonie im Vergleich zu einem normalen Telefonat anzugeben. Es gibt weitreichende und wichtige Unterschiede zwischen dem Telefonat und dem Video‐Telefonat. Der Mehrwert einer quasi‐persönlichen Begegnung durch ein Video‐Telefonat gegenüber einem »normalen« Anruf zieht sich insbesondere daraus, dass durch Videotelefonate deutlich besser eine Vertrauensbasis aufgebaut werden kann. Man kann das Gegenüber und seine/ihre Reaktionen sehen und lesen wie in einem physischen Meeting. Ohne digitalen Hintergrund kann man auch recht schnell deutlich persönlicher werden als im physischen Meeting. Sollte jemand im Homeoffice sitzen und ein Bild des Hundes oder der Familie hängt im Hintergrund, hat man sehr schnell einen Gesprächsaufhänger auf der persönlichen Ebene.
Abb. 1.4: Videokonferenz wird von Kunden dem telefonischen Kontakt vorgezogen
Außerdem ermöglichen es Videokonferenzen, moderne, interaktive Inhalte zu teilen und Produkte zu zeigen. Tatsächlich erkennen die Vertriebler mit der Zeit die Effektivität des virtuellen Verkaufens an. In der erwähnten Studie von Bain & Company aus dem April 2021 geben 79 Prozent der Verkäufer die erhöhte Effektivität des virtuellen Verkaufens an. Das sind immense 25 Prozentpunkte mehr als die 54 Prozent, die dies im Mai 2020 angegeben haben.
Üblicherweise sind die Vertriebler zu Beginn einer Transformation zu Next Level Sales eher skeptisch und glauben nicht immer an den Mehrverkauf durch diese Umstellung. Dieses Buch fokussiert sich daher auf diesen Punkt und soll eine Hilfestellung sein, die analogen Vertriebler zu digitalen Vertrieblern zu befähigen oder ein neues digitales Vertriebsteam aufzubauen. Die bereits erwähnten Effizienzsteigerungen werden im Detail erläutert und anhand von Fallbeispielen aus der Praxis untermauert.
Die Unternehmen
Nicht zuletzt profitieren von dem Wandel auch die Unternehmen und deren (Vertriebs‐)Manager aufgrund von folgenden Aspekten:
1 Nach meiner Projekterfahrung verkaufen die Vertriebler im Durchschnitt 40 bis 60 Prozent mehr nach ihrer Next‐Level‐Sales‐Befähigung. Die Analyse, die zu diesen Fakten führt, folgt in Abschnitt 3.2. Somit können Firmen mit der gleichen Vertriebsmannschaft ein höheres Vertriebsergebnis generieren oder alternativ den gleichen Output mit reduzierter Vertriebsmannschaft realisieren. Studien wie die bereits mehrfach erwähnte von Bain & Company (2021) zeigen auf einer großen Grundgesamtheit eine Umsatz‐ und Effektivitätssteigerung von in etwa 50 Prozent auf.15
2 Der cNPS (Customer Net Promoter Score)16 steigt typischerweise. Die Kundenzufriedenheit erhöht sich durch ein besseres Servicelevel aufgrund der besseren Erreichbarkeit und höheren Flexibilität der Vertriebler. Außerdem findet mit der Umstellung auf den digitalen Vertrieb auch eine bessere Unterstützung durch segmentspezifische Marketingmaterialien statt und der Kunde darf sich somit über einen persönlicheren, relevanteren und spezifischeren Angang freuen.
3 Auch der eNPS (Employee Net Promoter Score)17 steigt an. Der eNPS steigt oft vielleicht nicht im gleichen Ausmaß an wie der cNPS, jedoch wurde bei dem Großteil der Transformationen, die ich mit meinen Teams begleiten durfte, eine positive Entwicklung festgestellt. Die Mitarbeiterzufriedenheit erhöht sich insbesondere durch näheres Zusammenrücken und Best Practice Sharing im Vertriebsteam. Vertriebler entwickeln sich vom »einsamen Wolf« zum Teil einer Herde, die zusammen agiert und gemeinsam erfolgreich Abschlüsse generiert. Nichtsdestotrotz komme ich nicht darum, zu erwähnen, dass mit der Umstellung auf den digitalen Vertrieb auch ein Kulturwandel mit einhergeht. Im Laufe des Buches kommen wir auf Strukturen, Tagespläne und Wochenziele zu sprechen, die am Anfang eines solchen Wandels nicht nur für Zufriedenheit sorgen. Die typischen Phasen der Stimmungslage einer Transformation vom analogen zum digitalen Vertrieb zeigt die anfänglichen Stimmungsdämpfer, aber auch die Entwicklung zum besseren eNPS. Der Anstieg des cNPS sowie