Wen würde er von Franz Bertrams Familie antreffen? Vielleicht die hysterische Ehefrau, die bereits seit Stunden auf ihren Mann wartete?
Oder die Tochter oder den Sohn, die vielleicht gar nicht wussten, dass ihr Vater über Nacht weg war?
Was sollte er ihnen sagen? Er hatte doch noch keine verlässlichen Ergebnisse. Sollte er von einem Unfall sprechen? Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf seine Intuition und Schlagfertigkeit zu verlassen.
Mit finsterer Miene programmierte er sein Navigationsgerät, startete den Wagen und fuhr los.
4. Kapitel
Müllekoven ist der kleinste, der zwölf Stadtteile von Troisdorf. Die Atmosphäre wird hauptsächlich durch Landwirtschaft und Obstanbau geprägt. Durch die Lage unmittelbar an der Grenze zu Bonn, ist er als Wohnort sehr begehrt. Das Naherholungsgebiet der unteren Sieg beginnt sofort am Ortsrand, und bis zur Sieg sind es nur wenige Hundert Meter.
Kommissar Eisenstein parkte seinen Wagen am Rand des Bürgersteiges gegenüber einer imposanten, modernen Kirche in Müllekoven. Das Gemäuer bestand aus rotem Backstein. Auffallend waren jedoch die drei runden Kirchtürme. Ein großer Turm, den ein Wetterhahn an der Spitze zierte, und die beiden kleineren Türme waren mit schwarzem Schiefer verkleidet. Eisenstein stieg aus und blieb beeindruckt stehen, um die Kirche genauer in Augenschein zu nehmen.
„Ja, ja, unsere St.-Adelheid-Kirche. Sie sind wohl nicht von hier. Ich sehe das an ihrem Nummernschild“, hörte er eine Stimme hinter sich. Ein alter Mann auf einem noch älteren Fahrrad war stehen geblieben.
„Ein Meisterwerk von Gottfried Böhm“, sprach der Mann weiter, der sichtlich stolz auf seine Kirche war.
Eisenstein kannte diesen Gottfried Böhm nicht.
„Wahrscheinlich hatte dieser Baumeister noch mehrere andere Kirchen gebaut“, dachte er.
„Ja, ein tolles Bauwerk“, stimmte er dem Mann zu.
„Ich muss weiter. Vielen Dank für die Information“, sagte Eisenstein und begann seinen Fußmarsch durch den Ort. Auch der alte Mann bestieg umständlich sein Fahrrad. Als er an Eisenstein vorbeifuhr, winkte er noch kurz und rief: „Einen schönen Tag.“
Bald darauf war er an der nächsten Straßeneinbiegung verschwunden.
Eisenstein hatte es sich seit Langem zu eigen gemacht, das Wohnumfeld der beteiligten Personen seiner Fälle kennenzulernen. Gemütlich, immer den Blick nach rechts und links wendend, streifte er durch den Ort. Die Straßen wurden immer enger. Oftmals fehlte der Bürgersteig. Die zum Teil alten Häuser aus dunklem Backstein und die Fachwerkhäuser übten einen Reiz auf Eisenstein aus. Während seiner früheren Tätigkeit in der Großstadt hatte er solche Ortschaften und malerischen Winkel nicht kennengelernt.
Bevor er ausstieg, hatte ihm ein letzter Blick auf das Navi verraten, dass die gesuchte Straße nicht weit entfernt war. Bei der gesuchten Hausnummer handelte es sich um ein altes, dunkles Backsteingebäude, das früher vielleicht ein kleiner Bauernhof gewesen war. Mehrere dieser Gebäude reihten sich aneinander, und gemeinsam ergaben sie eine ansehnliche, alte Straßenfront, die der Straße insgesamt ein gemütliches Aussehen verlieh. Eine schwere doppelte Eisentüre versperrte den Zugang.
Er suchte gerade noch die Klingel, als sich die Türe quietschend öffnete, und ein junger Mann heraustrat. Eisenstein blickte in einen kleinen mit Kopfsteinpflaster gepflasterten Innenhof.
„Wohnt hier die Familie Bertram?“, fragte Eisenstein, da er kein Namensschild gefunden hatte.
„Ja, und was wollen Sie?“, fragte der junge Mann etwas schnippisch.
„Mein Name ist Eisenstein. Kommissar Eisenstein, Kriminalpolizei Bonn.“
„Ist etwas mit meinem Vater? Ich habe ihn heute noch nicht gesehen“, fragte der junge Mann und seine Augen weiteten sich fragend.
„Übrigens, ich bin Dominik, der Sohn“, fuhr er jetzt etwas freundlicher fort.
Dominik war schlank und vielleicht zwanzig Jahre alt. Seine glatten, braunen Haare waren zu einer Kurzhaarfrisur geschnitten.
„Kommen Sie bitte mit“, entgegnete der Kommissar lediglich, ohne auf die Frage einzugehen.
Mit einer Hand drückte er den jungen Mann zur Seite und schritt durch das Tor, über den Innenhof in Richtung Hauseingang. Der Sohn folgte ihm, ohne weitere Fragen zu stellen.
„Gott sei Dank, er fragt nicht weiter“, dachte Eisenstein.
In der geöffneten Haustüre stand eine große Frau von etwa fünfzig Jahren. Ihre Figur war schmal, vielleicht sogar hager. Ihre Wangen waren eingefallen, und die Wangenknochen traten stark hervor. Die braunen Haare hatte sie zu einem Knoten zusammengebunden. Auf ihrer Stirn, und um ihren Mund zeigten sich tiefe, scharfe Furchen, die ihrem Gesicht ein schrecklich hartes und strenges Aussehen verliehen. Ihre Füße steckten in einfachen, blauen Sandalen. Ein katzengraues Augenpaar musterte Eisenstein neugierig. Eisenstein vermutete, dass es sich um Frau Bertram handelte, die womöglich sein kurzes Gespräch mit ihrem Sohn gehört hatte.
Nachdem Eisenstein seinen Namen und seine Dienststellung genannt hatte, stellte sich die Frau tatsächlich als Frau Bertram vor. Höflich und bestimmt, beinahe unfreundlich, bat sie ihn ins Haus und bot ihm im Wohnzimmer einen Platz auf einem gemütlich wirkenden Ohrensessel am Fenster an. Durch das große Fenster blickte er auf eine ausladende Terrasse mit angrenzenden, gepflegten Blumenbeeten. Sowohl der Sohn als auch seine Mutter blieben mit dem Rücken zum Fenster stehen und sahen Eisenstein erwartungsvoll an.
„Setzen Sie sich doch auch bitte“, forderte Eisenstein sie auf.
Frau Bertram nahm auf dem äußeren Ende der Sitzfläche eines anderen Sessels ihm gegenüber Platz. Nervös knetete sie ihre Hände. Ihr Sohn blieb hinter ihr stehen.
„Ist etwas mit meinem Mann?“, fragte sie mit spröder Stimme.
„Ja. Frau Bertram, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann tot ist“, begann Eisenstein und versuchte dabei, mit Frau Bertram Blickkontakt zu halten.
Er sah, wie sich unter den eingefallenen Wangen von Frau Bertram die Kieferknochen kraftvoll zuckend gegeneinander drückten. Dabei hielt sie seinem Blick stand. Keine Träne trat in ihre Augen.
Eisenstein schaute kurz zu Dominik hoch, dessen Hände sich tief in den Stoff des Sessels gruben, auf dem seine Mutter saß. Sein Gesicht war um einige Nuancen blasser geworden und seine Augen, die starr auf Eisenstein gerichtet waren, füllten sich unübersehbar mit Tränen.
„Tot? Das kann nicht sein. Er war doch nur zum Angeln drüben am See. Wo ist mein Mann?“, fragte Frau Bertram und schlug fast theatralisch die Hände vor ihren Mund, als hätte sie bereits zu viel gefragt.
„Frau Bertram“, fuhr Eisenstein fort. „Ein Jogger hat Ihren Mann heute Morgen am Sieglarer See gefunden. Er ist an seinem Angelplatz ertrunken. Genaueres wissen wir noch nicht. Ihr Mann wird zum Institut für Rechtsmedizin überführt. Dort wird man die Todesursache und den genauen Todeszeitpunkt feststellen.“
Bisher hatte Frau Bertram die Nachricht außergewöhnlich gefasst aufgenommen, fast zu gefasst. Weder ein Weinkrampf noch irgendwelche anderen Anzeichen für einen nervlichen Zusammenbruch oder für Fassungslosigkeit. Lediglich das unaufhörliche Kneten ihrer Hände zeigte ihre Nervosität und Erregtheit.
„Vielleicht hat sie meine Mitteilung noch nicht ganz realisiert und steht unter Schock“, dachte Eisenstein als Begründung für das ungewöhnliche, unberührte Verhalten von Frau Bertram.
„Ich muss Sie bitten, morgen Nachmittag zum Institut für Rechtsmedizin der Universität Bonn zu kommen und Ihren Mann offiziell zu identifizieren. Ich hole Sie ab, rufe Sie aber vorher an“, beendete hiermit Eisenstein seine unangenehme Aufgabe.
„Wann kann