„Das kann ich noch nicht sagen. Das kommt darauf an, wann die Obduktion ist und was sich daraus ergibt“, antwortete Eisenstein.
Frau Bertram nickte kaum merklich. Das war ihre ganze Reaktion. Keine Träne, nicht einmal ein Blick zu ihrem Sohn, der gerade erfahren hatte, dass sein Vater verstorben war. Keine Frage wieso, und wie ihr Mann ertrunken war – nichts. „Mama“, schrie plötzlich Dominik und fiel seiner Mutter um den Hals. Im Gegensatz zu seiner Mutter konnte er seine Tränen nicht mehr zurückhalten.
Seine Mutter nahm ihn in den Arm, legte ihm eine Hand auf den Kopf und zog ihn an sich. Kein tröstendes Wort kam über ihre Lippen. Trotzdem war es die erste menschliche Reaktion, die Eisenstein bei Frau Bertram feststellte.
„Was für eine harte Frau!“, dachte er.
Eisenstein war froh, dass er die Überbringung der Todesnachricht hinter sich gebracht hatte. Anderseits war es interessant für ihn, zu sehen, mit wie wenig Emotion Frau Bertram die Nachricht aufgenommen hatte.
Er spürte: Irgendetwas war hier seltsam. Er hatte keine direkten Beweise dafür. Zumal viele Menschen ungewöhnlich reagieren, wenn sie die Nachricht vom Tode ihres Angehörigen durch die Mordkommission erhalten. Überraschung, Angst und Unsicherheit auf die unvorbereitete Mitteilung können solche Reaktionen auslösen. Vielleicht war es aber auch mit der Ehe der Bertrams nicht zum Besten gestellt, und Frau Bertram weinte ihrem Mann deswegen keine Träne hinterher?
Eisenstein hoffte, dass er den wirklichen Grund noch herausfinden würde.
Der Sohn hatte sich inzwischen von der Mutter gelöst und kauerte in der Sofaecke und ließ weiterhin seinen Tränen freien Lauf, wobei sein Körper immer wieder von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt wurde.
Eisenstein erhob sich zum Gehen und verabschiedete sich mit dem Hinweis an Frau Bertram, an die Identifizierung morgen zu denken. Er war froh, dass er diese furchtbare Aufgabe erledigte hatte.
„Wenn Ihnen etwas Wichtiges einfällt, das Sie mir sagen wollen, rufen Sie mich einfach an“, sagte Eisenstein und händigte Frau Bertram seine Visitenkarte aus. Für ihren Sohn legte er seine Visitenkarte auf den Tisch.
Nachdem sich die Haustüre hinter ihm geschlossen hatte, blieb er einen Augenblick stehen und lauschte. Kein Laut drang an sein Ohr. Wie konnte eine Frau bloß die Todesnachricht des Mannes so ruhig ertragen? Oder war das tatsächlich der Schock?
Bevor er den Innenhof verließ, schweifte sein Blick über den Hof. In der Mitte parkte ein großer Audi, der neu zu sein schien. Irgendwie passte dieser Wagen nicht zu diesem Ehepaar. Schon gar nicht zu dieser harten, kalten Frau, dachte Eisenstein. Sie stellte er sich eher in einem einfachen, nüchternen, den Zweck erfüllenden Kleinwagen vor.
In diesem Augenblick fiel ihm ein, dass er Frau Bertram oder ihrem Sohn noch sagen musste, dass sie den alten Mercedes am Wanderparkplatz am See gefunden und zur Untersuchung ins Polizeipräsidium gebracht hatten. Er würde ihnen Morgen in der Gerichtsmedizin die Schlüssel geben. Bis dahin war der Wagen gewiss von der Spurensicherung untersucht und freigegeben worden.
Er verließ den Hof und schlenderte zu seinem Wagen, noch immer beeindruckt von dieser seltsamen Familie.
Im Wagen wischte er die Gedanken beiseite. Jetzt konnte er endlich zu Inka fahren und hören, was aus der Wohnung geworden war.
Kurze Zeit später verließ Dominik Bertram sein Zuhause, stieg in seinen Wagen, der am Straßenrand parkte und fuhr zu seiner Freundin. Die Visitenkarte von Kommissar Eisenstein hatte er in der Hand und warf sie achtlos ins Handschuhfach.
Eisenstein war in Gedanken versunken und hatte sein Navigationsgerät nicht eingeschaltet. Aus mangelnder Ortskenntnis wählte er den Weg über Sieglar, um dann über die Autobahn nach Pützchen, um zu seiner Freundin zu fahren. Er fuhr langsam und schaute sich dabei die Umgebung an. Von der Straße „Im Kirchtal“ fuhr er geradeaus in die Larstraße, direkt in das Zentrum von Sieglar. Die Straße wurde enger, und er war mehr und mehr beeindruckt von den alten Backsteingebäuden, wie es die Gaststätte „Zur Küz“ eines war und von den prachtvoll gepflegten Fachwerkhäusern. Als er direkt auf den alten Mühlenhof zufuhr, nahm er seine Geschwindigkeit bis auf zwanzig Stundenkilometer zurück, damit er das alte Fachwerkhaus ausreichend betrachten konnte.
Auf der anderen Straßenseite ging eine ältere Frau, die eine prall gefüllte Stofftasche trug. Eisenstein konnte darauf das Wort Café lesen. Er hielt an und drehte das Seitenfenster herunter.
„Entschuldigung. Können Sie mir sagen, wo hier ein Café ist?“, rief er über die Straße.
„Nächste Straße links ab, dann sehen Sie das Café bereits“, rief die Frau zurück und ging weiter ihres Weges.
Nach einigen Hundert Metern bog er links ab. Es schien ihm, als ob diese Straße ins Ortszentrum führte. Er hatte Lust auf einen leckeren Cappuccino, vielleicht auch ein Stück Kuchen, denn er hatte heute noch nicht zu Mittag gegessen. Tatsächlich sah er an der nächsten Straßenecke den Hinweis auf das „Café Bröhl“.
Alle Parkplätze rechts und links der Straße waren belegt, bis direkt vor dem Café ein Wagen zurücksetzte und einen Parkplatz freigab, den er dankbar nutzte.
Er stieg aus und stand direkt neben einem riesigen bronzenen Stier oder Ochsen. Da er vor einer Raiffeisenbank parkte, überlegte er, ob es hier wohl eine Verbindung zu dem großen Bullen und Bären vor der Frankfurter Wertpapierbörse gab. Mit diesen Überlegungen betrat er das Café. Es wirkte gemütlich und sehr gepflegt. Er fand einen Platz direkt am Fenster. Was Eisenstein noch nicht wusste, war, dass das Café Bröhl für Sieglar das Gleiche war, wie für Berlin das Café Kranzler, oder für Wien das Wiener Café. Hier traf man sich und tauschte die Neuigkeiten des Tages aus.
Kurz nachdem er Platz genommen hatte, erschien die Bedienung, eine auf den ersten Blick sympathische junge Frau. Ein schwarzes Oberteil, ein kurzer, schwarzer Rock, dem eine kleine weiße Schürze vorgebunden war und ordentlich zu einem Pferdeschwanz zusammengebundene, schwarze Haare verliehen ihr ein seriöses, ansprechendes Äußeres. Sie begrüßte den Kommissar mit einem freundlichen, ungezwungenen Lächeln und fragte nach seinen Wünschen.
Nachdem er seinen Cappuccino bestellt hatte, konnte er es sich nicht verkneifen, die junge Frau nach dem Sinn des Stieres vor der Raiffeisenbank zu fragen.
„Na, das ist der Sieglarer Ochse. Wir nennen ihn Lööre Oohs, und er ist unser Maskottchen.“
„Und was hat es für eine Bewandtnis mit diesem Tier?“, wollte er jetzt genau wissen.
„Das ist eine lange Geschichte. Vor vielen Jahren benutzten die Sieglarer die Ochsen als Fleisch- und Arbeitstiere. Die Sieglarer züchteten speziell die Ochsen. Die Menschen aus den anderen Stadtteilen riefen scherzhaft, wenn sie Bewohner aus Sieglar sahen: Da kommen die Lööre Oohse. Der Ochse steht grundsätzlich für Stärke und Beharrlichkeit“, schloss die junge Frau ihren Vortrag.
„Und woher wissen Sie das alles?“, fragte Eisenstein neugierig.
„Von meinem Vater. Der ist Mitglied im Heimat- und Geschichtsverein.“
„Vielen Dank für die wirklich umfassenden Informationen. Sie haben meine Neugierde total befriedigt. Bringen sie mir bitte zum Cappuccino noch ein Stück Kirschstreusel, der sieht ganz lecker aus“, lächelte er.
Zum ersten Mal an diesem Tag hatte Eisenstein für ein paar Minuten die Gedanken an den Toten im See und an Inka und der Wohnung verdrängen können.
Wenn er jetzt wieder an Inka und die Wohnungsfrage dachte, drängte sich ihm nicht nur die Frage auf, ob es richtig war, eine Wohnung hier in einem Vorort, abseits der größeren Stadt zu suchen. Nein, inzwischen stellte sich ihm sogar die Frage, ob es richtig war, zusammen mit Inka eine Wohnung zu beziehen? Mochte er überhaupt diese totale Nähe zu ihr? Er liebte Inka und er liebte es auch, wenn er an den Wochentagen abends bei ihr war. Im Hinterkopf hatte er aber immer