Naturverbundene Völker, die etwas von der archaischen Fähigkeit des außersinnlichen Wahrnehmens bewahrt haben, wie zum Beispiel die Zigeuner, die Hochlandschotten oder die »Spökenkieker« nahe der Nordseeküste, nehmen in der Umgebung von Brennnesselhorsten oft ungewöhnliche Erscheinungen wahr. Übersinnliche Energien, die manchmal als Geister, als Ahnen oder als Heinzelmännchen gedeutet werden, umweben und umschweben die Nesseln. Die Siebenbürger Zigeuner sprechen von kleinen Erdmännlein, die sie Pchuvuschen nennen. Die Brennnesselkolonien sind folglich »Wälder der Pchuvuschen«. Die Männlein sind stark behaart, hässlich und äußerst geil. Gerne nehmen sie sich Menschenfrauen, um sich fortzupflanzen. Frauen, denen so etwas widerfährt, wissen gar nicht, was mit ihnen geschieht. Sie fühlen sich einfach von den Nesseln angezogen, und die unsichtbaren Pchuvuschen, die sie gebären, erscheinen ihnen höchstens im Traumgesicht. Den winzigen Männlein wachsen drei goldene Haare auf dem Kopf. Wem es gelingt, eines davon auszureißen, der kann dann Steine in Gold verwandeln. Die Deutung solcher Aussagen überlasse ich lieber dem Leser. Vielleicht haben solche Geschichten etwas mit der »Eisenstrahlung« zu tun, die von der Brennnessel ausgeht. Das glauben jedenfalls die biodynamischen Gärtner. Und das Gold, von dem die Rede ist, ist sicherlich das Gold der Weisheit.
EIN FREUND DES LANDMANNES
Die Brennnessel als Freund und Helfer des Gärtners oder des Bauern? Kaum zu glauben, wenn man bedenkt, wie hemmungslos der Landwirt heutzutage auf die giftigsten Herbizide zurückgreift – auf Trichlorphenoxyessigsäure etwa, welche den Stoffwechsel der Pflanze derart beschleunigt, dass sie sich zu Tode wächst –, um die sich ausbreitenden Brennnesselkolonien zu vernichten. Möge Mutter Gaia dem Landmann die Augen öffnen, damit auch er die positiven Seiten dieser Pflanze zur Kenntnis nehme.
In früheren Zeiten, als die Menschen noch in einer bunteren, magischen Welt lebten, sahen sie in der Brennnessel einen wahren Bundesgenossen gegen verschiedene Bedrohungen. Der Bauer im Erzgebirge steckte zum Beispiel nebst einem Besenstiel Brennnesselzweige in die Ecke des Feldes, das er bepflanzen oder einsäen wollte. Dazu sagte er: »Da, du Krähe, das ist dein; was ich stecke, das ist mein!«
Fast überall wurden Nesselbüschel im Stall aufgehängt, damit unsichtbare fliegende unholde Wesen, Hexen eben, dem Vieh und der Milch nichts Böses antun. Hexen fürchten sich allgemein vor dornigen, stacheligen oder spitznadeligen Gewächsen, in denen sie hängen bleiben können. Zur Walpurgisnacht, wenn es die Unsichtbaren besonders wild treiben, wurden Nesselruten auf die Düngerhaufen gesteckt, oder der Mist wurde sogar damit gepeitscht. Man glaubte, die Hexen würden das am eigenen Leib spüren, und es würde ihnen die Lust vergehen, sich am Vieh zu vergreifen.
In ganz Osteuropa wurde Milchzauber mit der Brennnessel getrieben. Wollte die Milch nicht zur Butter werden, dann holte sich der sächsische Bauer eine Nesselrute und redete die Pflanze beim Pflücken mit folgenden Worten an: »Grüß dich Gott, Nesselstrauch,
Hast fünfzig (Feuer) und kein Rauch
Gib mir den besten (Schlüssel)
Lass mich aufschließen der Zauberin ihr Schoß
Dass ich kann herausnehmen den Butterkloß
Das helfe mir Gott!«
Am höchsten Feiertag der Südslaven, dem Badnick, geht ein nacktes Mädchen in den Stall und berührt mit einem Brennnesselzweig jedes einzelne Tier, besonders die Milchkühe. Dabei sagt das Mädchen: »Besser die Nessel als jene, die da kommen könnte, die Milch wegzunehmen!«
Damit die Milch an heißen Tagen nicht so schnell sauer wird, war es vielerorts Brauch, einen Brennnesselzweig in die Milch zu tauchen. Noch in diesem Jahrhundert (1902) wurde eine Berliner Milchverkäuferin wegen Lebensmittelverfälschung vor Gericht gestellt, weil sie versucht hatte, auf diese Weise das Gerinnen zu verhindern. Die Angeklagte musste aber freigesprochen werden, da sie ein »allgemein geübtes Verfahren« angewendet hatte.
Heutzutage bringt der Bauer oder Gärtner solchen Zauberpraktiken wenig Verständnis entgegen. Schule und Medien haben uns den Zauberglauben ausgetrieben, und gegen Milchversäuerung gibt es immerhin Kühlbehälter. Dennoch spielt die Brennnessel immer noch eine wichtige Rolle für den naturnahen Gärtner oder Bauer. Überall, wo sie wächst, hinterlässt sie einen guten, ausgeglichenen Boden. Sie gilt unter Kennern als hervorragende Humusbildnerin. Schauen wir uns nun einmal näher an, was der kluge Landmann alles mit der Brennnessel anfangen kann:
• Mancher Gärtner bereitet aus der Brennnessel eine Jauche, die die Gemüsepflanzen nicht nur kräftig düngt, sondern auch gegen Schädlings- und Pilzbefall widerstandsfähiger macht. Das Düngen mit dieser Jauche verändert die Zusammensetzung der Säfte in den Kulturpflanzen, sodass sie den Insekten nicht mehr so gut schmecken. Ein alter Gärtner erzählte mir, er habe sogar beobachtet, wie durch diese Behandlung die Ameisen aktiver wurden und auf Raupenjagd gingen. Die Brennnesseljauche stinkt entsetzlich, aber wie das Sprichwort sagt: Was stinkt, das düngt!
• Bei Stängelfäule, die die jungen Pflänzlein im Frühbeet umkippen lässt, bei Mehltau und anderem Pilzbefall ist ein Brennnesseltee das geeignete Mittel. Der Aufguss, mit Zusatz von einem Teil Schachtelhalm und einem Teil Kamille, wird zur Vorbeugung auf die gefährdeten Pflänzchen gesprüht. Man könnte zur Wirkung sagen, dass der feurige Mars keine mondhaften Schmarotzer duldet wie Pilze oder Mehltau.
Rezepte
Wie man Brennnesseljauche macht
Einen Bottich oder ein Fass – nicht aus Metall – bis oben mit Brennnesseln füllen, mit Regenwasser auffüllen und an einen sonnigen Ort stellen. Das Gebräu fängt bald an zu gären und zu stinken. Der Zusatz einer Handvoll Steinmehl hilft, das
sich bildende Ammoniakgas zu binden. Nach etwa drei Wochen ist die Jauche fertig. Sie wird 1:10 mit Regenwasser verdünnt und um die Pflanzen gegossen. Besonders Starkzehrer wie Kohl und Tomaten sind dafür dankbar.
• Als Nachbarschaftspflanze erhöht die Brennnessel in Heilkräutern den Gehalt an ätherischen Ölen (PHILBRICK/GREGG 1967:73). Messungen ergeben folgende Steigerungen des Ölgehalts:
Baldrian | 20% | Pfefferminze | 10% |
Engelwurz | 80% | Salbei | 10% |
Majoran | 10–20% |
• Kohl, Äpfel, Kartoffeln und andere Gemüse halten sich besser im Gemüsekeller, wenn man sie auf Brennnesseln legt oder mit Brennnesseln abdeckt. Grüne Tomaten reifen gut nach und halten sich in Brennnesselverpackung länger.
• Getrocknete Nesselblätter, unter Hühnerfutter gemischt, machen Eidotter schön gelb und schützen das Federvieh gegen Durchfall.
• Kühe bringen eine bessere Milchleistung, wenn sie getrocknetes Brennnessellaub mit ins Futter bekommen. Dieser »Milchzauber« wird in Russland und auf den Britischen Inseln noch immer praktiziert.
• Pferdehändler mischen gern Nesselsamen unter den Hafer, damit die Pferde »feurig« werden. Sie bekommen zudem davon ein glänzendes Fell.
BRENNNESSEL ALS BIODYNAMISCHES PRÄPARAT
Rudolf Steiner, der die biologisch-dynamische Landwirtschaft ins Leben rief, entwickelte eine Serie von Kräuterpräparaten, die dem Kompost beigegeben werden, um ihn für die »dynamischen« Impulse, die von den Planeten auf die Erde strahlen, empfänglich zu machen. Die zu bestimmten Zeiten gepflückten Kräuter werden in tierische Organe gehüllt, welche die in den Pflanzen vorhandenen kosmischen »Bildekräfte« – wir würden sie Energien nennen – festhalten und intensivieren. Schafgarbenblüten werden zum Beispiel in eine Hirschblase gestopft, Löwenzahn wird in Rindergekröse gehüllt, Kamille kommt in Rinderdarm, Eichenrinde in einen Schafs- oder Kuhschädel. Nur die Brennnessel braucht keine besondere tierische Hülle, sie ist ja schon in einen Mantel aus Tiergiften gehüllt. Sie wird lediglich ein Jahr lang im Humusboden vergraben und dann in homöopathischer Dosierung dem Kompost zugesetzt. Das Brennnesselpräparat bringt, wie die Biodynamiker gerne sagen, die Kräfte des Mars in den Kompost. Die Brennnessel »durchstrahlt den Kompost wie das Eisen das Blut« und macht – wie Rudolf Steiner sagt – »den