Was sind das nun für Tugenden, die dieser Allerweltskerl besitzt? Schauen wir uns einmal genauer an, was er so alles kann.
NEUNKRÄUTERSUPPE
Unsere Vorfahren, insofern sie Kelten, Slawen oder Germanen waren, hielten das wehrhafte Kraut hoch in Ehren. Diese im frühesten Frühjahr hervorsprießenden Nesseltriebe waren stets Teil der »Neunkräutersuppe oder -küchlein«, mit denen sich die heidnischen Bauernstämme erneut mit den Lebenskräften der erwachenden Vegetation verbanden. Die Kelten personifizierten das frische Grün in der Gestalt des Grünen Mannes (»le feuillu«), des Gefährten der Erdgöttin. Dieser stürmische Vegetationsgeist war es, der Wald, Wiese und Feld dem eisigen Winterkönig streitig machte. Die Brennnessel, ein bewaffneter Krieger im Verbund des Grünen Mannes, half mit, nicht nur den äußeren, sondern auch den inneren Winter, den üblen Scharbock (Skorbut) und die Winterschwäche nämlich, zu vertreiben.
Auch nach der Bekehrung zur Religion des Paulus, als die alten Götter und der Grüne Mann längst in Vergangenheit geraten waren, hielt man an der alten Kultspeise fest. Nun löffelte man die eher bitter schmeckende Suppe vor allem in der Karwoche zum Gedächtnis an die bitteren Leiden des Heilands oder im Gedenken an die bitteren Kräuter, welche die Kinder Israels zum Passah aßen. Hier und da kennt man sie noch immer als »Gründonnerstagssuppe«.
Die mittelalterlichen Doktoren dachten in diesem Zusammenhang weniger an die Passion Christi oder an die unsichtbaren Dämonenwürmer, die den Scharbock verursachten und ausgetrieben werden mussten, sondern vielmehr an »verdorbene Körpersäfte« und »schlechte Humore«. Es galt, diese »Humore« zu reinigen und ins Gleichgewicht zu bringen. Im Winter sammelt sich zuviel »schwarze Galle« an. Ebenso wie die Erde sich im Frühling verjüngt und alles wieder in flüssige Bewegung bringt, sollte auch der Mensch mit Hilfe der grünenden Vegetation seine Säfte in Bewegung bringen. Da die Frühlingskräuter – vor allem die Brennnessel – Harn und Schweiß treiben, den Stuhlgang fördern und den Schleim in der Lunge lösen, galten sie als die probaten Mittel. Sie sorgten wieder für »guten Humor«.
Noch bis zu diesem Jahrhundert waren derartige »Blutreinigungskuren« mittels Kräutern beim Landvolk gang und gäbe. Neben Nesseln sammelt man die kleinen, fettig glänzenden Blätter des Scharbockskrauts, das sich als Erstes auf den feuchten Weiden und unter dem noch kahlen Gebüsch hervorwagt. Dazu kommen die zarten Blättchen und Triebe verschiedener bitterer Kressen und Knöteriche, Vogelmiere, Schafgarbe, Gänseblümchen, Geißfuß, Löffelkraut und anderer frosttrotzender Frühjahrspflanzen.
Viele Zeitgenossen lächeln über den alten Kräuterglauben. Wir wissen inzwischen, dass Skorbut, dessen Symptome bleierne Müdigkeit, Gaumenbluten, Hautverfärbung und Gliederschmerzen sind, nichts weiter ist als eine Folge von Vitamin-C-Mangel. Südfrüchte, Multivitaminpillen und Solarien haben, so meinen wir, die Frühjahrskur überflüssig gemacht. Zudem können sich viele Ärzte unter einer »Blutreinigung« kaum mehr etwas vorstellen. Dennoch beklagen sich die Leute nach wie vor über die »Frühjahrsmüdigkeit«, die sich bleiern auf Glieder und Gemüt legt. Das Gewächshausgemüse und die Vitaminpillen verhindern zwar ein Ausbrechen akuter skorbutischer Symptome, aber die Vitalität und Kraft, die das frische Grün verleiht, besitzen sie dennoch nicht. Für die »Grüne Neune« gibt es keinen Ersatz!
Auch eine Brennnesselsuppe allein, ohne Beimischung anderer Frühlingskräuter, ist geeignet, die Schlacken (überschüssige Harnsäure) aus dem Gewebe zu schwemmen. Nach dem Verzehr dieser Suppe fühlt man sich tatsächlich wohler und vitaler. Zudem schmeckt sie ausgezeichnet. Wir haben gesehen, wie diese Pflanze mit ihrem Ameisen- und Bienengift fast in die Sphäre des »Tierischen« hineinragt (solche Verbindungen gehören eigentlich zur organischen Chemie animalischer Organismen). Kein Wunder also, dass der Geschmack – zum Entzücken des Gourmets – leicht an Meeresfrüchte oder eher an Fisch erinnert.
Brennnesselsuppe oder -gemüse enthalten wertvolle Nährstoffe, besonders viel Eisen und Kalzium, Vitamin A und C und, ihrer »tierischen« Natur entsprechend, besonders viel Eiweiß.
Bis zur Sommersonnenwende kann man die Brennnessel als Wildgemüse verwenden. Dann aber, wenn sie anfängt zu blühen, geht die Lebenskraft in Pollen und Samen über. Aber auch im Herbst und im Winter braucht man nicht auf dieses wunderbare Gemüse zu verzichten. Die im Frühling gesammelten, sorgfältig im Schatten getrockneten Blätter kann man das ganze Jahr über als Suppenzutat, für Tees oder zur Haarspülung verwenden.
Botaniker sind sich nicht einig, ob die Große Brennnessel in Amerika schon vor der Ankunft der Weißen heimisch war oder ob sie eines der vielen Kräuter ist, welche die Indianer als »Fußstapfen der Bleichgesichter« bezeichneten.
Rezepte
Einfache Brennnesselsuppe
Fein gehackte Zwiebel in Fett (Butter, Öl) andünsten, mit Fleisch- oder Gemüsebouillon ablöschen, fein gehackte junge Brennnesseltriebe (eine Tasse pro Teller Suppe) hinzugeben, kurz aufwallen lassen. Zum Schluss noch ein Ei hineinrühren, etwas Butter, Sojasauce und Brot-Croûtons hinzufügen.
Irische Brennnesselsuppe
6 Stangen Lauch, in Stücke geschnitten, in Butter dünsten, mit einem Liter Milch ablöschen und unter ständigem Rühren weich kochen. Danach 4 Tassen fein gehackte Brennnesseln, etwas Salz und 2 bis 3 Esslöffel gekochte Haferflocken hinzufügen. Aufkochen und heiß servieren.
Englischer »Nettle Pudding«
1 Schüssel (4 l) frische, junge
Brennnesselspitzen
2 große Stangen Lauch
oder Zwiebeln
2 Broccoli oder 4 Rosenkohl
oder 1 kleiner Kohl
250 g Reis
Salz
Das Gemüse klein schneiden und mit den Brennnesseln mischen. Schichtweise abwechselnd mit dem Reis in einen Musselinsack füllen und diesen fest zubinden. In Salzwasser so lange kochen, bis Gemüse und Reis gar sind. Mit Butter oder Fleischsauce servieren.
Japanische Brennnesseltempura
Brennnesselblätter in Pfannkuchenteig tauchen und im heißen Fett frittieren. Mit Sojasauce servieren.
Meine Freunde aus dem Stamme der Cheyenne kennen diese Pflanze kaum. Sie wächst auch nicht gerade üppig in den eher trockenen Bergen von Montana. Als ich dem Pflanzenmedizinmann Bill Büffelstier eine Brennnesselsuppe vorsetzte, stocherte er eine Weile missmutig in seinem Teller herum und fragte eher misstrauisch: »Wo sind die Nadeln?« Als ich ihn davon überzeugen konnte, dass diese mit dem Kochen verschwinden, aß er die Suppe mit höchstem Genuss.
PFLANZE DER ERLEUCHTUNG
Für die Inder und Tibetaner ist die Nessel – Bichhu Booti auf Hindi – geradezu eine heilige Pflanze, die bei den Himalaja-Völkern in der Ernährung und Heilkunde eine wichtige Rolle spielt. Aus den Samen wird sogar ein Speiseöl gewonnen. Die Hänge des Kailasha, des im Westen Tibets gelegenen heiligsten Berg Asiens, sind von dichten Brennnesselwäldern bewachsen. Der Berg, der als Sitz des Gottes Shiva gilt, als das höchste Chakra (Sahasrara-Chakra) des Erdenleibes und als das Mandala der Dhyana-Buddhas, ist das Ziel vieler Erleuchtung suchender Pilger. Selbstverständlich gibt es keine Nahrungsmittelläden in der menschenleeren Einöde, die diesen Nabel der Welt umgibt. Die furchtlosen Pilger sind also gezwungen, sich fast ausschließlich von den Samen und Blättern dieser Pflanze zu ernähren. So wird auch hier die Brennnessel zum Wegweiser zum Himmel, zum Vorboten der Erleuchtung.
Milarepa, der größte Dichter Tibets, lebte als Einsiedler am Fuße des Berges. Viele Jahre nahm er nur Brennnesseln zu sich, sodass sich seine Haut grün verfärbte. Auf den Thankas, den Meditationsbildern, und den buddhistischen Ikonen wird der erleuchtete Meister noch immer grün dargestellt. Seine Brennnesseldiät half ihm, Siddhi-Fähigkeiten zu entwickeln. (Ein Siddhi ist ein Vollkommener voller magischer Potenz.) Auf diese Weise erlangte Milarepa eine solche Leichtigkeit, dass er wie eine Wolke vom Berg herabschweben konnte. Als er in seinem Heimatdorf landete, kochte seine Schwester ihm Reis und Gemüse. Der grüne Heilige