Heilkräuter und Zauberpflanzen zwischen Haustür und Gartentor - eBook. Wolf-Dieter Storl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf-Dieter Storl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783039020195
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getragen haben.) Wer weiß, was für verborgene, magische Zusammenhänge den Alten bekannt waren, dass sie solche Verbindungen herstellten?

      SPINNRAD DER GÖTTIN

      Die ersten Missionare und Waldläufer, die die Wälder Nordamerikas erforschten, berichten, dass die Indianer die dort heimischen Nesselarten (Urtica gracilis, Laporta canadensis) nicht nur als Suppengrün verspeisten und als Diuretika verwendeten, sondern auch aus ihren Fasern Seile, Stricke, Taschen, Schlingen und vor allem Netze zum Fangen von Fischen herstellten. Der Jesuitenpater Louis Hennepin (1698) berichtet von Fischernetzen aus Nesselfaser von 40 bis 50 Fathomen (80–90 Meter) Länge, mit denen die Irokesen pro Fischzug bis zu 400 fette Felchen und dazu noch viele Störe gefangen hätten (ERICHSEN-BROWN 1979:444). Die französische Missionsschwester Marie de l’Incarnation (1670) berichtet, dass die Indianerinnen keine Spindeln benutzen: Mit den Handflächen zwirbeln sie die Fasern auf ihren Schenkeln zu festen Fäden und Schnüren. Es ist dann die Aufgabe der Männer, diese zu Netzen zu verknüpfen.

      Die hier beschriebenen Techniken sind das Erbe der paläolithischen Jäger und Sammler. Ohne Netze und Schlingen wäre es schwierig gewesen, das Wild zu erbeuten, ohne Seile und Taschen schwierig, die wenigen Habseligkeiten zum nächsten Lager zu tragen. Dass die Brennnessel in den nördlicheren Breitengraden wahrscheinlich die erste wichtige Faserpflanze war, deutet unsere Sprache an, deren Wurzeln ja ebenfalls bis in die Altsteinzeit zurückgehen. Das Wort »Nessel« entstammt dem indogermanischen Urwort *ne. Daraus ergibt sich ein ganzer Bedeutungskomplex mit folgenden Inhalten: nähen (lat. nere und griech. néein = spinnen; griech. nema = Faden; sanskr. nah = binden). Netz (Geknüpftes; lat. = Fischreuse), nesteln (knüpfen, schnüren), Nestel (Band, Schnürriemen; dazu gehört auch das Nestelknüpfen, das schwarzmagische Verknüpfen von Hosenlatzbändern, um einen Mann impotent zu machen) und das altgermanische Wort nezze (Zwirn). Auch das Wort Nadel bezog sich zuerst auf die Stechhaare dieser Faserpflanze.

      Außer dem Historiker, der sich auf die Geschichte der Textilherstellung spezialisiert, oder dem Gärtner, der beim Ansetzen einer Brennnesseljauche auf die faserigen Stränge der Brennnesselhalme aufmerksam wird, weiß wohl kaum jemand von der kulturhistorischen Bedeutung dieser Faserpflanze. Aber da gibt es auch einige Märchen, die – wenn wir aufmerksam zuhören – uns etwas über die einstige Bedeutung der Brennnessel erfahren lassen. Wir wollen uns diese nicht vorenthalten, denn auch sie deuten hin auf die tieferen Geheimnisse des Brennnesseldeva.

      Ein von den Brüdern Grimm aufgezeichnetes uraltes Märchen erzählt von einem König, dessen zweite Frau eine Hexe war. Weil er befürchtete, die Stiefmutter würde den Kindern – sechs Knaben und ein Mädchen – ein Leid antun, versteckte er diese in einem Waldschloss. Die Böse aber fand das Versteck und verwandelte die Königssöhne in wilde Schwäne. Die verlassene Schwester suchte überall nach ihren Brüdern. Als sie tief im Wald in einer leeren Hütte übernachtete, hörte sie plötzlich das Rauschen von Flügeln. Da sah sie sechs Schwäne, die ihr Federkleid abstreiften und Menschengestalt annahmen. Es waren ihre Brüder! Doch die Freude des Wiedersehens währte nicht lange. »Jeden Abend nur eine Viertelstunde lang können wir unsere Schwanenhaut ablegen«, sagten die Brüder. »Könnt ihr nicht gerettet werden?« fragte das Mädchen. »Ach, nein«, antworteten sie und wurden sehr traurig, »die Bedingungen sind zu schwer. Wer uns erlösen will, darf sechs Jahre lang nicht sprechen und nicht lachen und muss in der Zeit sechs Hemdchen für uns aus Sternblumen (Brennnesseln) nähen!«

      Ohne zu zögern machte sich die Schwester an die schwierige Aufgabe. Unermüdlich sammelte sie die stechenden Nesselruten und spann das Nesselgarn. Dann versteckte sie sich im Geäst eines Baumes und nähte unaufhörlich an den Nesselhemden.

      Eines Tages jagte ein Königssohn im Wald und wurde durch das Kläffen der Bracken auf ihr Versteck aufmerksam. Da sie so schön war, verliebte er sich sofort in sie, nahm sie mit auf sein Schloss und machte sie zu seiner Frau. Der König aber hatte eine boshaft neidische Mutter, die bei jeder Gelegenheit schlecht über die junge Königin sprach.

      Nach einiger Zeit gebar diese ihr erstes Kind. Aber während sie schlief, kam die Alte geschlichen, nahm ihr das Kind weg, bestrich ihren Mund mit Blut und ging zum König, dem sie klagte, die junge Frau sei eine Menschenfresserin.

      Da die junge Königin nicht reden durfte, konnte sie sich auch nicht verteidigen. Aber der König, der seine Frau liebte, glaubte seiner Mutter nicht. Die Alte raubte auch das zweite Kind. Als sie dann auch noch das dritte neugeborene Kind zum Verschwinden brachte, musste der König seine Frau dem Gericht überantworten. Sie wurde zum Tod durch das Feuer verurteilt!

      Gerade am Tag der Hinrichtung waren die sechs Jahre vorbei. Die sechs Hemden waren bis auf einen Ärmel fertig geworden. Die Hemden unter den Arm geklemmt, bestieg sie den Scheiterhaufen. Als der Henker den Feuerstoß anzünden wollte, rauschten plötzlich sechs Schwäne daher und nahmen die Gestalt von Königssöhnen an. Da nun ihre Brüder erlöst waren, durfte die junge Frau wieder reden. Sie verriet den Betrug der Alten, die an ihrer Stelle sofort auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.

      Hans Christian Andersen erzählt ein ähnliches Märchen, nur sind es in diesem Fall elf Schwäne, die erlöst werden müssen, und es ist ein böser Bischof, der die Königstochter verleumdet und verbrennen lassen will, weil er sie nachts beobachtet hat, wie sie auf dem Friedhof Nesseln pflückt. So etwas machen angeblich nur Hexen!

      Ein weiteres Märchen erzählt von einem hartherzigen Vogt, der einer Dirne nicht erlauben wollte, den Schlossgärtner zu heiraten, bevor sie ihm zwei Hemden aus den Nesseln, die auf dem Grabe ihrer Eltern wuchsen, genäht hatte. Das Mädchen weinte bitterlich und war so betrübt, dass ein wildes Bergweiblein sich erbarmte und ihr beim Spinnen half. Der böse Vogt starb, gerade als sie mit der schweren Arbeit fertig war. Das eine Nesselgewand wurde sein Leichenhemd, das andere nahm sie als ihr Hochzeitsgewand.

      Hinter diesen Märchen steckt ein wichtiges Stück vergessener Kulturgeschichte. Die Brennnessel, wie auch der mit ihr verwandte Hanf, wurde im Neolithikum für die Völker Nordeuropas bald eine wichtige Faser- und Gespinstpflanze, aus welcher Gewebe so fein wie Musselin oder so grob wie Segel- und Sacktuch hergestellt wurden. Auch feste Stricke und Seile wurden aus Nesselfasern gedreht.

      Die Garnherstellung war keineswegs einfach. Die Nesseln mussten wie auch der Flachs oder Hanf in Wasser eingeweicht, vergoren, geröstet, geschwungen, in Lauge gekocht, durch die Hechel gezogen und zu spinnfertigen Wocken geschlichtet werden, ehe sie spinnbereit waren. Diese umständliche und schwierige Arbeit wurde fast ausschließlich von den Frauen verrichtet.

      Seit neolithischen Zeiten war es die Große Göttin selber, die über die Herstellung der Zwirne, Garne und Spinnfäden gebot. Sie war es auch, die in Gestalt der Frigga, Athena, Minerva, Ishtar der Moiren oder der Nornen mit ihrer Spindel oder dem Spinnrad das Schicksal der Menschen und der Götter spann. Ebenso »spannen« die Frauen am Schicksal der Hofgemeinschaft und Familie, wenn sie in der dunklen Jahreshälfte in den Spinnstuben ihre Garne bearbeiteten, scherzten und plauderten. Das waren wichtige und heilige Angelegenheiten. Da hatten die Männer nichts zu suchen. Hier und da sollen die Spinnerinnen den Männern, die ihrem Arbeitsplatz zu nahe kamen, als derben Scherz die Hosen mit Brennnesseln vollgestopft haben.

      In diesem Zusammenhang lässt sich der tiefere Sinn der Märchen deuten. Die schöne Königstochter, die die Nesselhemden näht, ist niemand anders als die Göttin, die den Lebensfaden spinnt und das Schicksal webt. Sie ist es, die, wie im zweiten Märchen, sowohl das Hochzeitskleid als auch das Totenhemd näht. In Grimms Märchen hängt das Schicksal ihrer Brüder förmlich von ihrem Wort oder besser gesagt von ihrem Schweigen ab. (Traditionell wird die Schicksalsgöttin als schweigend dargestellt.) In diesem Märchen wird auch die zauberwidrige Macht dieser eisenhaltigen Pflanze offenbart. Nur Panzerhemden aus Nesseln können vom bösen Zauber befreien. Die Schwanengestalt symbolisiert in der indogermanischen Mythologie immer das »Fliegen«, das »Hinaustreten«, das Nichtverbundensein mit der materiellen Erde und ihren ehernen Gesetzen. Die Nessel jedoch, die als Hemd schützend die Brust und die Herzmitte umhüllt, vermittelt den abgehobenen, entschwebten Seelen jene Eisenkraft, die sie wieder fest auf den Erdboden stellt, die sie ermächtigt, ihr diesseitiges