Unabhängig davon gilt es zu verstehen, dass Probleme beim Lesen und Schreiben auch auf weitere Aktivitäten wirken, die ebenfalls wichtig sind für die Partizipation an Bildungsprozessen. Da Lesen und Schreiben gleichzeitig auch Kulturtechniken sind, die in fast allen Schulfächern fürs Lernen eingesetzt werden, können Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten andere Lernprozesse ebenfalls behindern. Auch hier spielen Umweltfaktoren eine wichtige Rolle. Wenn grundsätzlich der Schriftlichkeit beim Lernen ein grosses Gewicht beigemessen wird, ist dies für betroffene Jugendliche erschwerend. Andererseits können Mindmaps, Fotografien und Abbildungen die Verarbeitung von Informationen bei Lernprozessen erleichtern. Die Nutzung von anderen Aktivitäten fürs Lernen – etwa zeichnen, zuhören oder Diskussionen führen – kann somit die Auswirkung einer Dyslexie auf Lernprozesse vermindern. Bildungskontexte, die den Erwerb und die Anwendung von solchen Lernstrategien fördern, wirken somit erleichternd, während dort zusätzliche Behinderungen zu erwarten sind, wo der Wille oder die Kenntnisse zu solchen Lösungen fehlen. Der Beitrag von Lichtsteiner im vierten Kapitel zeigt zahlreiche Möglichkeiten zur Erleichterung von Lernprozessen auf.
Für die Diagnose von Dyslexie oder Dyskalkulie gibt es zwar klare Kriterien, welche darüber entscheiden helfen, ob diese Störungen tatsächlich vorliegen oder nicht. Diese Kriterien sind zwar notwendig für die Erstellung der Diagnose, aber nicht hinreichend, um die Schwierigkeiten der Betroffenen zu beschreiben. Auch hier kann die Verwendung des Modells und der Klassifikation der ICF hilfreich sein, da sie unterscheidet zwischen einer festgestellten Störung und den Körperfunktionen und Aktivitäten. Dyslexie und Dyskalkulie sind häufig begleitet von Problemen mit Aufmerksamkeit, Kontrolle des Aktivitätsniveaus sowie weiteren neurologischen Auffälligkeiten, wie sie im Beitrag von Weisshaupt und Jokeit in diesem Band näher beschrieben werden. Diese Bereiche werden in der ICF als Körperfunktionen verstanden und im Kapitel «mentale Funktionen» erfasst, zum Beispiel Funktionen des Gedächtnisses oder der Wahrnehmung sowie psychomotorische und sprachlich-kognitive Funktionen. Die Verwendung der ICF erlaubt also eine exaktere Beschreibung der effektiv beim einzelnen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen beeinträchtigten Körperfunktionen und bietet dadurch auch eine bessere Grundlage zur Verständigung über Anpassungen der Prüfungsmodalitäten. Die Herstellung des Zusammenhangs zwischen schlechten Lese- und Rechtschreibfähigkeiten und Körperfunktionen ist deshalb von grosser Bedeutung, weil damit nachgewiesen werden kann, dass die Ursachen nicht (ausschliesslich) in einer «unangemessenen Beschulung» oder einer «Intelligenzminderung» liegen.
Alle diese Zusammenhänge sind für das hier vorliegende Fachbuch bzw. für die Praxis von grosser Bedeutung, da durch die Unterscheidung zwischen unveränderbarer Störung, den damit eng verbundenen Körperfunktionen, den sich in Entwicklung befindenden Fähigkeiten sowie den vorhandenen Möglichkeiten zur Partizipation erst Zugänge für einen konstruktiven Umgang mit Dyslexie und Dyskalkulie in Bildungskontexten geschaffen werden. Denn Störungen oder Krankheiten führen nur dann zu Behinderungen, wenn damit Einschränkungen der Funktionsfähigkeit verbunden sind. Medizinisch gut kontrollierte Diabetes etwa führt in den seltensten Fällen zu schulisch relevanten Behinderungen. Depressionen hingegen beeinträchtigen die Fähigkeit zu lernen, werden in der Schule aber oft nicht als Behinderungen wahrgenommen, weil sie im Unterricht nicht stören. Da hingegen hyperaktive Störungen im Klassenverband sehr schnell zu Problemen führen, werden diese viel häufiger identifiziert. Jugendliche in Sonderschulen werden kaum mit hohen Erwartungen konfrontiert, entsprechend fallen spezifische Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten nicht auf. Ob und in welchem Ausmass sich eine Störung in Behinderungen manifestiert, hängt somit auch von der Umwelt (z.B. Ausbildungs- und Prüfungsanforderungen, Unterrichtsbedingungen, Einstellungen der Lehrpersonen) ab. Dieses Zusammenspiel in der jeweiligen Situation adäquat zu verstehen, bildet eine wichtige Voraussetzung für die Planung sinnvoller Interventionen. Seitens der Ausbildungssysteme sind dabei die Vorgaben zu Kompetenzentwicklung und -erreichung von zentraler Bedeutung. Im folgenden Abschnitt soll deshalb auf die Beziehung zwischen Störungen wie Dyslexie oder Dyskalkulie und den von Bildungssystemen definierten Kompetenzen eingegangen werden.
1.5 Beziehung zwischen Störungen und Kompetenzen
Der Kompetenzbegriff hat in den letzten Jahren auch in der Schweiz an Bedeutung gewonnen und bildet die Grundlage für die von der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) eingeleitete Harmonisierung der obligatorischen Schule (HarmoS). Im Rahmen von HarmoS wurde unter anderem für die Schulsprache ein Kompetenzmodell entwickelt,21 das aus sechs Kompetenzdomänen (Zuhören, Lesen, Sprechen, Schreiben, Orthografie, Grammatik) besteht. Bildungsstandards und Kompetenzmodelle wurden auch für Mathematik, Naturwissenschaften und Fremdsprachen entwickelt.22 Die ICD-10-Diagnosen «Dyslexie» und «Dyskalkulie» werden, wie bereits erwähnt, als «umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten» bezeichnet. Für Bildungssysteme ist es von grosser Bedeutung zu verstehen, wie der Erwerb von schulisch relevanten Kompetenzen von diesen Entwicklungsstörungen beeinträchtigt wird. Es besteht die Gefahr, dass diese miteinander gleichgesetzt werden: Wer eine Dyslexie hat, hat automatisch schlechte sprachliche Kompetenzen. Daraus kann leicht abgeleitet werden, dass junge Menschen mit Dyslexie sprachintensive Ausbildungsgänge grundsätzlich meiden sollten. Andererseits kann auch argumentiert werden: Wer generell gute sprachliche Kompetenzen zeigt, kann keine Dyslexie haben. Aus dieser (verkürzten) Argumentation könnte man schliessen, dass Prüfungsanpassungen nicht angebracht sind. Beide Argumentationen werden der betroffenen Person nicht gerecht, da der Unterschied zwischen Störung und Kompetenz nicht adäquat berücksichtigt wird.
Sowohl für die Betroffenen selbst als auch für Personen, die über Prüfungsanpassungen oder andere Anpassungen zu befinden haben, ist es deshalb wichtig, die mit der Störung direkt verbundenen Einschränkungen klar von den mit einer Kompetenz verbundenen Fähigkeiten zu unterscheiden. Auch hier kann die Orientierung am Klassifikationssystem der ICF sehr hilfreich sein, da die direkt mit einer Dyslexie oder Dyskalkulie verbundenen Ausfälle klar umrissen und beschrieben werden können, während Kompetenzen – insbesondere auf Sekundarstufe II und Tertiärstufe – komplexe «Cluster» von Fähigkeiten beschreiben. Erst durch die getrennte Erfassung von Einschränkungen und Kompetenzen kann verstanden werden, welche Bedeutung eine Störung für den Kompetenzerwerb hat und welche Anpassungen adäquat sind. Die Frage nach gerechtfertigten und nicht gerechtfertigten Prüfungsanpassungen wird im dritten Kapitel zu den rechtlichen Grundlagen ausführlich erläutert. Einschränkungen, die eng mit Störungen wie Dyslexie oder Dyskalkulie assoziiert sind, bilden den stabilen Anteil von Behinderungen. Bildung beschäftigt sich jedoch vorwiegend mit dem, was sich verändern lässt, und ist deshalb grundsätzlich kompetenzorientiert. Welche Kompetenzen in ihrem Erwerb von welchen Störungen wie beeinträchtigt werden und wie alternative Erwerbswege gefunden oder Ausfälle kompensiert werden können, sind deshalb wichtige pädagogische Fragen, die in den folgenden Beiträgen in diesem Fachbuch für die Praxis bearbeitet werden.
1.6 Behindert sein und behindert werden
Die traditionellen Behinderungsbegriffe beschreiben Defizite, die alleine dem Kind oder Jugendlichen zugeschrieben werden. Aber wie bereits erwähnt, lassen sich aus Störungen keine Bildungsprogramme ableiten, und für Lehrpersonen ist es viel wichtiger, ihre spezifischen Auswirkungen auf Bildungsprozesse zu kennen. Der mehrdimensionale und umweltbezogene Behinderungsbegriff, welchen die WHO mit der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) etabliert hat, bildet eine Brücke zwischen Störungen und Kompetenzen sowie zwischen Behindertsein und Behindertwerden. Das vorliegende Fachbuch für die Praxis leistet sowohl einen Beitrag zur Verminderung der Auswirkungen