Die berufliche Grundbildung inklusive Berufsmaturität und die Mittelschulbildung mit den Fachmittelschulen und den Gymnasien bilden in der Schweiz die Sekundarstufe II. Der Tertiärstufe sind die höhere Berufsbildung, die Fachhochschulen, die pädagogischen Hochschulen und die universitären Hochschulen zugeordnet. Die höhere Berufsbildung umfasst die eidgenössischen Berufsprüfungen (BP), die eidgenössischen höheren Fachprüfungen (HFP) und die höheren Fachschulen (HF). Der Begriff «Berufsbildung» meint sowohl die berufliche Grundbildung als auch die höhere Berufsbildung.
Brückenangebote im Übergang von der Volksschule in die Sekundarstufe II, die Weiterbildung oder die Berufsabschlüsse für Erwachsene werden in diesem Buch nicht speziell thematisiert. Viele Aussagen des Buches sind aber auch auf diese Bildungsbereiche übertragbar.
Nicht berücksichtigt sind die Vorschule, die Primarstufe und die Sekundarstufe I, weil bereits viele Publikationen über Dyslexie und Dyskalkulie bei Schulkindern vorhanden sind. Das Jugend- und Erwachsenenalter hingegen wurde bisher im Zusammenhang mit Dyslexie und Dyskalkulie im deutschsprachigen Raum wenig beachtet. Das vorliegende Fachbuch soll darum eine Lücke schliessen für Fachleute in der Praxis und für die Betroffenen selbst.
Bei der Erarbeitung des Buches wurde Wert darauf gelegt, mit unterschiedlichen Fachleuten, die mit der Thematik vertraut sind, in Kontakt zu treten. So wurden Informationen eingeholt beispielsweise durch eine nicht standardisierte Umfrage bei Berufsfachschulen, Mittelschulen, höheren Fachschulen und Beratungsstellen, die bestätigte, dass Dyslexie und Dyskalkulie als Themen wahrgenommen werden. Daraus entstanden Kontakte zu einzelnen Fachleuten, die sich an ihren Schulen oder in ihren Beratungsstellen mit Fragen der Integration von Lernenden mit Dyslexie oder Dyskalkulie befassen. Kontaktpersonen für Studierende mit Behinderungen an den Hochschulen wurden via Mail angesprochen. Die Rückmeldungen zeigten, dass die Hochschulen ganz unterschiedlich mit dem Thema «Studium und Behinderung» umgehen. Die meisten gehen noch kaum proaktiv vor und reagieren vorwiegend auf Anfragen in Einzelfällen.
Fragen, die sich bei der Erarbeitung ergaben, beispielsweise die Frage, ob Dyslexie in der Fremdsprachendidaktik thematisiert wird oder ob bei den zentral durchgeführten Selektionstests Dyslexie und Dyskalkulie berücksichtigt werden, wurden den entsprechenden Fachleuten unterbreitet. Die Antworten zeigen, dass diese Fragen bisher noch kaum diskutiert wurden und ein grosser Handlungsbedarf besteht.
Die Ergebnisse der Umfrage und die Diskussionen mit Fachleuten beeinflussten vorwiegend die Bearbeitung der Thematik im vierten Kapitel, «Bildungserfolg für Lernende und Studierende mit Dyslexie oder Dyskalkulie», S. 98 ff.
Das Buch «Dyslexie, Dyskalkulie – Chancengleichheit in Berufsbildung, Mittelschule und Hochschule» beleuchtet das Thema für Lernende und Studierende aus verschiedenen Perspektiven.
In Kapitel 1, «Recht auf Bildung und Entfaltung der Persönlichkeit», erläutert Prof. Judith Hollenweger die gesellschaftlichen Aspekte von Bildung und Bildungssystemen. Sie unterstreicht den Einfluss, den das Verständnis von Behinderung auf den Umgang mit Chancengleichheit in der Bildung ausübt. Gefordert wird ein Verständnis von Behinderung, das eine komplexe Interaktion zwischen der Funktionsfähigkeit einer Person und ihrer Umwelt einschliesst. Neben der individuellen Förderung und Unterstützung werden so auch die optimale Gestaltung der Umwelt und das Entfernen von Barrieren berücksichtigt.
In Kapitel 2, «Zur Neuropsychologie von Dyslexie und Dyskalkulie», fassen Rahel Weisshaupt und Prof. Hennric Jokeit aus neuropsychologischer Sicht das aktuelle Wissen zu Dyslexie und Dyskalkulie zusammen. Verschiedene verbreitete Annahmen über Dyslexie und Dyskalkulie werden relativiert oder korrigiert, und die Notwendigkeit einer sorgfältigen fachkundigen Abklärung der betroffenen Jugendlichen und Erwachsenen als Beitrag zu einer chancengleichen Bildungslaufbahn wird betont.
In Kapitel 3, «Rechtliche Aspekte der Bildungschancengleichheit für Lernende mit Dyslexie oder Dyskalkulie im Mittelschul-, Berufsbildungs- und Hochschulbereich», stellen Dr. Stephan Hördegen und Prof. Paul Richli Chancengleichheit für Lernende mit Dyslexie und Dyskalkulie in der Berufsbildung, den Mittel- und Hochschulen in einem wissenschaftlichen Beitrag aus juristischer Sicht dar. Diese Thematik ist bisher noch nicht in dieser Form behandelt und diskutiert worden. Die Autoren haben diesen Beitrag speziell für dieses Buch erarbeitet. Eilige Leserinnen und Leser finden am Ende des Kapitels eine Zusammenstellung der wichtigsten Aussagen.
In Kapitel 4, «Bildungserfolg für Lernende und Studierende mit Dyslexie oder Dyskalkulie», zeigt Monika Lichtsteiner Müller auf, wie sich eine Lese-Rechtschreib-Schwäche oder eine Rechenschwäche im Rahmen der Bildung auf der Sekundarstufe II und auf der Tertiärstufe konkret auswirken kann und welche Massnahmen dazu beitragen, Barrieren zu beseitigen. Leserinnen und Leser erfahren unter anderem, wie Nachteilsausgleiche inklusive Hilfsmittel und Notenschutz eingesetzt werden können, welche Bewältigungsstrategien zum Bildungserfolg beitragen können, was für und was gegen ein Offenlegen der Dyslexie oder Dyskalkulie spricht und wie eine «dyslexie-dyskalkulie-freundliche» Bildungsumgebung aussieht.
In Kapitel 5, «Dyslexie im Berufsleben kommunizieren», wirft Elisabeth Moser einen Blick in die Arbeitswelt. Sie berichtet, wie ausgewählte Vertreterinnen und Vertreter von Arbeitgeberseite die Beschäftigung von Personen mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche und einer Rechenschwäche beurteilen und wie es Betroffenen gelingt, sich im Arbeitsmarkt zu integrieren. Zitate von Betroffenen konkretisieren die Aussagen im Text.
Im von Leila Müller verfassten Kapitel 6, «Erleben Sie meine Welt», begleiten die Leserinnen und Leser eine fiktive Person mit Dyskalkulie durch einen Tag und erleben, wie es sich anfühlen kann, mit einer Leseschwäche lesen zu lernen, Texte zu lesen und Fehler zu korrigieren.
Zwischen den einzelnen Kapiteln gewähren Jugendliche und Erwachsene, die mit einer Dyslexie oder Dyskalkulie leben, Einblick in ihre Schul- und Bildungslaufbahn. Sie berichten davon, wie eine Dyslexie oder Dyskalkulie bisweilen zu einer Last wird und wie sie als Betroffene für sich nach Wegen suchen, mit ihren Beeinträchtigungen umzugehen, aber auch, wie es ihnen gelingt, Ziele zu erreichen.
Es gehört zum Konzept des Buches, verschiedene Fachbereiche einzubeziehen und neben den Fachleuten auch die von Dyslexie und Dyskalkulie Betroffenen zu Wort kommen zu lassen. Da Betroffene immer wieder die Erfahrung machen, dass ihre Schwächen nicht verstanden werden, haben wir, um sie vor möglichen negativen Auswirkungen zu schützen, nicht ihre richtigen Namen verwendet. Die Fotos sind so aufgenommen, dass die Porträtierten nicht erkannt werden können.
Bei den Zitaten aus Büchern oder aus dem Internet haben wir hingegen die ohnehin bereits veröffentlichten Namen verwendet.
Das Fachbuch informiert über Dyslexie und Dyskalkulie bei Jugendlichen und Erwachsenen in Ausbildung. Es diskutiert pädagogische und rechtliche Aspekte. Es weist darauf hin, was Betroffene selbst zu ihrem Erfolg beitragen können, und es zeigt auf, was in den Bildungsinstitutionen, Abklärungs- und Beratungsstellen unternommen werden muss, damit Bildungsziele, die den Fähigkeiten entsprechen, besser realisierbar werden.
Unser Ziel ist es, die Leserinnen und Leser einzuladen, sich mit den Fragen und Problemen von Lernenden und Studierenden mit Dyslexie und Dyskalkulie auseinanderzusetzen und wahrzunehmen, dass sie neben Problemen auch Kompetenzen mitbringen. Es soll sie anregen, institutionelle Barrieren abzubauen, die Betroffenen zu fördern und ihnen zu ermöglichen, dass sie ihre Fähigkeiten entfalten und ausschöpfen können. Diejenigen Fachleute, die sich bereits für Chancengleichheit einsetzen, soll es bestätigen und motivieren, auf ihrem Weg weiterzugehen.