Wie Fend (2008) ausführt, hat das Bildungswesen sowohl eine gesellschaftlich-kulturelle Reproduktions- und Innovationsaufgabe als auch die Funktion, individuelle Handlungsfähigkeit herzustellen, «die sich in Qualifikationserwerb, Lebensplanung, sozialer Orientierung und Identitätsbildung entfaltet» (ebd., S. 23). Für die Sicherung der Bildungschancen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Dyslexie oder Dyskalkulie in allgemeinbildenden oder berufsbildenden Ausbildungsgängen auf der Sekundarstufe II und der Tertiärstufe stellen sich primär Fragen zu adäquaten Qualifizierungsmöglichkeiten und zu gerechten Zulassungsmechanismen. Welche Gelegenheitsstrukturen (Angebote, Unterstützungsmöglichkeiten) sind erforderlich, damit notwendige Kompetenzen und erforderliche Fähigkeiten erworben werden können? Welche Regelsysteme (Zulassungen, Berechtigungen) braucht es, um den Zugang zu höheren Ausbildungsgängen zu erhalten und diese erfolgreich abzuschliessen? Zur Sicherung der Bildungschancen der betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind sowohl besondere Überlegungen zur Förderung und Unterstützung als auch zur Vermeidung von Diskriminierungen und Benachteiligungen notwendig. Im Folgenden soll kurz geschildert werden, welche Entwicklungen gegenwärtig in diesen Bereichen im europäischen Raum und in der Schweiz zu beobachten sind.
1.2 Unterstützungssysteme auf Sekundarstufe II und Tertiärstufe
Die schulische Sonderpädagogik ist fast ausschliesslich auf die Volksschule ausgerichtet und hat sich bisher kaum mit der postobligatorischen Bildung auseinandergesetzt. Bereits auf Sekundarstufe I werden seitens des Bildungssystems nur noch wenige Stütz- und Fördermassnahmen angeboten. So erhielten etwa im Kanton Zürich im Schuljahr 2008/2009 auf der Unterstufe von 100 Lernenden 1,4 Kinder eine Legasthenie- und ein Kind eine Dyskalkulietherapie, während im gleichen Schuljahr nur 0,3 respektive 0,1 Lernende der Sekundarstufe I diese Massnahmen besuchten.9 Die Sekundarstufe I ist in der Schweiz nach Leistungsniveaus gegliedert, und generell wird davon ausgegangen, dass man damit den unterschiedlichen Lernbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler gerecht werden kann. Kinder und Jugendliche mit schweren Behinderungen werden auch heute noch mehrheitlich in Sonderschulen unterrichtet, trotz internationalem Druck zur Umsetzung integrativer respektive inklusiver Schulangebote. Wegen dieser starken Ausrichtung auf die Volksschulzeit besteht heute in den Mittelschulen des Kantons Zürich nach der Vollendung der obligatorischen Schulzeit kein vergleichbarer Rechtsanspruch mehr auf staatliche Beiträge für Stütz- und Fördermassnahmen. Auch die neue interkantonale Vereinbarung im Bereich der Sonderpädagogik orientiert sich an der obligatorischen Schulzeit, obwohl die Berechtigten zwischen 0 und 20 Jahre alt sein können. In den kommenden Jahren wird sich zeigen, wie die Kantone diese neuen Vorgaben umsetzen werden. Berufsfachschulen hingegen können bereits heute aufgrund des Berufsbildungsgesetzes (Art. 21 Abs. b und c) besondere Angebote zur Verfügung stellen, etwa mittels Stützkurse. Insbesondere im Berufsbildungsbereich wurden in den letzten Jahren viele Initiativen gestartet, um die Situation von Jugendlichen mit Behinderungen oder Lernschwierigkeiten zu verbessern. Allerdings muss festgestellt werden, dass dabei spezifische Massnahmen (z.B. Nachteilsausgleich, Hilfsmittelangebote) bei Dyslexie und Dyskalkulie nicht genügend berücksichtigt wurden.
Auf der Tertiärstufe lässt sich heute eine sehr heterogene Praxis beobachten; einige Hochschulen führen bereits seit vielen Jahren Beratungsstellen für Studierende mit Behinderungen – zum Beispiel die Universität Zürich –, andere verfügen über keine institutionell verankerte Praxis und sind kaum sensibilisiert. Aufgrund der Ergebnisse einer Studie zur Situation von Menschen mit Behinderungen an Schweizer Hochschulen10 besteht weiterhin grosser Handlungsbedarf bezüglich der fehlenden Dienstleistungen und Hilfsmittel sowie bei der Vermeidung von Benachteiligungen. Heute lässt sich beobachten, dass Hochschulen vermehrt Fragen zum Umgang mit Behinderungen unter dem Stichwort «Diversity Management» diskutieren.11 Gemeint ist damit die Entwicklung einer umfassenden Strategie, welche auf die gesamte Diversität an Hochschulen – ob bezüglich Geschlecht, Herkunft, Sprache, Kultur oder Behinderung – ausgerichtet ist.
Neben den Ausbildungsstätten und den für sie verantwortlichen Stellen bei Bund und Kantonen spielt die Invalidenversicherung eine wichtige Rolle bei der Bereitstellung von Unterstützungsangeboten und Hilfsmitteln. Gemäss der Verordnung über die Invalidenversicherung (IV) haben Jugendliche und junge Erwachsene mit Eintritt in die erstmalige berufliche Ausbildung Anspruch auf Unterstützungsleistungen der IV – vorausgesetzt, sie werden gemäss den Vorgaben der IV als «invalid» und somit anspruchsberechtigt erachtet. Als erstmalige berufliche Ausbildung gelten neben Berufslehren auch der Besuch einer Mittel-, Fach- oder Hochschule. Entschädigt werden Mehrkosten, die durch die Invalidität entstehen. Dazu gehören: Aufwendungen für die Vermittlung der erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten, die Kosten für persönliche Werkzeuge und Berufskleider sowie die Transportkosten. Die Invalidenversicherung geht davon aus, dass solche Einzelmassnahmen adäquat sind; Fragen zu Bildungschancen, lebenslangem Lernen oder Recht auf Bildung können unter der Perspektive von Versicherungsleistungen nicht bearbeitet werden.
Von grosser Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Art und Weise, wie eine Bedarfsabklärung durchgeführt wird. Nur wenn Behinderung als das Ergebnis der Interaktion zwischen bestimmten Charakteristiken der Umwelt und der Person verstanden wird, fliessen Überlegungen zu Anpassungen der Umwelt in die Bedarfsfeststellung ein. Wie im nächsten Kapitel dargelegt werden soll, ist ein adäquates Verständnis von «Behinderung» eine wichtige Voraussetzung, um diese Analyse vornehmen zu können. Der Bedarf für Massnahmen oder Anpassungen kann sowohl beim Auszubildenden als auch bei den Ausbildenden – respektive den Schulen – liegen. Liegt der Bedarf bei der auszubildenden Person, ist es zudem wichtig, zwischen einem eigentlichen Förderbedarf und einem Bedarf an Beratung oder Assistenz zu unterscheiden. Gerade im Jugendalter kann das Vermitteln von Copingstrategien oder Beratungsangeboten sinnvoller sein als das Absolvieren von Förderprogrammen.
1.3 Zuweisungs- und Selektionssysteme auf Sekundarstufe II und Tertiärstufe
Mit dem Abschluss der Volksschule treffen Entscheidungen zur weiteren Ausbildung mit Fragen zur Berufswahl zusammen. Die Allokationsfunktion des Bildungssystems konkretisiert sich beim Übergang von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II und hinterlässt Spuren für das ganze Leben. Mit der Berufswahl und dem Suchen einer Lehrstelle oder dem Übertritt in eine Mittelschule werden wichtige Weichen gestellt für die spätere Berufsausübung. Da die berufliche Stellung heute zentral ist für die Lebensführung, ist sie gleichzeitig auch ein wichtiges Instrument für die Lebensplanung.12 Es ist wenig darüber bekannt, welche Faktoren genau bewirken, dass junge Menschen mit Behinderungen häufiger bei diesen Übergängen scheitern. Die verfügbaren Daten im europäischen