Vorwort zur zweiten Auflage und Dank
Frauen und Männer, die mit Dyslexie oder Dyskalkulie leben, haben mich durch ihre Fragen angeregt, mich vermehrt mit Chancengleichheit in der nachobligatorischen Bildung auseinanderzusetzen. Daraus ist die Idee für das vorliegende Fachbuch entstanden.
Verschiedene Personen haben dazu beigetragen, dass das Buch realisiert werden konnte: Die Autorinnen und Autoren, die Interviewpartner, die Fotografin und der Cartoonist beleuchten das Thema aus wissenschaftlicher Sicht, aus der Praxis, bildhaft und aus der persönlichen Erfahrung.
Der Verband Dyslexie Schweiz hat die Trägerschaft des Buchprojektes übernommen und das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen EBGB hat es mitfinanziert.
Die Zusammenarbeit mit dem hep verlag war unkompliziert und professionell.
Ich danke allen herzlich, die zum Entstehen des Buches beigetragen haben. Es hat so grossen Anklang gefunden, dass es bereits neu aufgelegt wird. Folgende Anpassungen wurden für diese 2. Auflage vorgenommen:
Links und Quellenangaben sind aktualisiert. Das Kapitel 3 ist zusätzlich inhaltlich überarbeitet und ergänzt; im Kapitel 4 sind einzelne Inhalte präzisiert.
In der ersten Auflage wurde der Begriff «Prüfungserleichterungen» verwendet, wenn es darum geht, die Massnahmen zum Ausgleich von Benachteiligungen bei Dyslexie und Dyskalkulie zu beschreiben. Für die zweite Auflage wurde dieser Begriff weitgehend mit «Prüfungsanpassungen» ersetzt, weil der Begriff «Prüfungserleichterungen» oft fälschlicherweise als Bevorzugung verstanden wird.
Eine anregende und informative, eine lehr- und lernreiche Lektüre wünscht
Monika Lichtsteiner Müller
Einführung
Monika Lichtsteiner Müller
Bildung ist in der Schweiz ein wichtiger Rohstoff. Sie wird verstanden als eine Investition mit einem langen «Return on Investment». Unter diesem Gesichtspunkt müsste eigentlich alles unternommen werden, um allen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen einen möglichst guten Zugang zu Bildung und zu Erfolg zu verschaffen. Menschen mit Dyslexie und Dyskalkulie werden jedoch immer wieder von Ausbildungen, insbesondere von schulisch anspruchsvollen, ausgeschlossen, auch wenn sie die nötigen intellektuellen Voraussetzungen mitbringen. Zu vielen gelingt es nicht, einen Abschluss zu erlangen. Es muss daher bekannt sein, wie sich eine Lese-Rechtschreib-Störung oder eine Rechenstörung im Jugend- und Erwachsenenalter in der Bildung auswirken kann, wo die Chancen liegen und wo die Stolpersteine sind, die zu Erfolg oder Misserfolg führen. Die notwendigen Massnahmen müssen konkretisiert werden, und es ist dafür zu sorgen, dass sie bekannt sind und umgesetzt werden. Auch Menschen mit einer Dyslexie oder Dyskalkulie sollen sich im Rahmen der formellen Ausbildungsgänge entwickeln können, sodass sie sich ihren Fähigkeiten entsprechend im Arbeitsleben einbringen und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und teilhaben können.
Das vorliegende Fachbuch für die Praxis richtet sich an die Unterrichtenden der Berufsfachschulen, der Berufsbildung, der Mittelschulen und der Hochschulen und an diejenigen, die eine leitende Funktion wahrnehmen, an Berufsbildnerinnen und Berufsbildner, an Fachleute, die für Selektion und Aufnahmeverfahren oder Abschlussprüfungen und Qualifikationsverfahren zuständig sind, an Verantwortliche, die Gesuche um Prüfungsanpassungen beantworten oder Rekurse bearbeiten. Es soll jedoch ebenso Fachleute in der Logopädie und der Heilpädagogik, in der Bildungsadministration und den Organisationen der Arbeitswelt ansprechen sowie Lehrpersonen der Volksschulstufe und Dozierende in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften.
Zur Zielgruppe dieses Fachbuches gehören auch Fachleute von Informations-, Abklärungs- und Beratungsstellen. Angesprochen sind zudem die von Dyslexie und Dyskalkulie betroffenen Lernenden und Studierenden und ihre Familien.
Als Begriffe werden «Dyslexie» und «Dyskalkulie» verwendet. Dyslexie ist der international gebräuchliche Begriff für eine Lese-Rechtschreib-Störung (LRS), die in der Schweiz häufig auch als «Legasthenie» bezeichnet wird. Deshalb erscheint der Begriff «Legasthenie» ebenfalls, meistens in Zitaten oder in den Porträts von Betroffenen.
Dyskalkulie ist der international gebräuchliche Begriff für eine Rechenstörung (RS). Zur Dyskalkulie existieren noch wesentlich weniger Grundlagen als zur Dyslexie. Darum wird im Buch die Rechenschwäche weniger ausführlich behandelt.
Auch die Begriffe «Leseschwäche» oder «Rechtschreibeschwäche» werden als Synonyme für «Dyslexie» und der Begriff «Rechenschwäche» für «Dyskalkulie» verwendet.
Wenn auf den folgenden Seiten Dyslexie und Dyskalkulie als Behinderungen bezeichnet werden, ist damit gemeint, dass Dyslexie und Dyskalkulie im juristischen Sinne als Behinderungen gelten. Im Zusammenhang mit Bildung ist das relevant, da spezielle Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen nur bei Vorliegen einer Behinderung gewährt werden können (nachteils Kapitel 3.1.2, S. 71). Wenn es um die Integration in die Bildungsgänge und die Arbeitwelt geht, darf das Individuum nicht isoliert betrachtet werden. Wie Hollenweger in Kapitel 1.4, S. 23, ausführt, sind Behinderungen immer auch als Ergebnis einer komplexen Interaktion zwischen der Funktionsfähigkeit einer Person und ihrer Umwelt zu verstehen.
Im Rahmen dieses Fachbuches ist es selbstverständlich nicht möglich, die ganze Komplexität, mit der die Fachleute in der Praxis konfrontiert sind, zu berücksichtigen. Eine Reduktion der Komplexität drängt sich auf.
Chancengleichheit in der Bildung ist auch für viele andere Menschen mit einer Behinderung ein Thema. Die in diesem Buch dargestellten rechtlichen Grundlagen und die Prüfungsanpassungen in Form von Nachteilsausgleichen und Notenschutz können auch bei anderen Behinderungen relevant sein, die konkreten Massnahmen müssen der Behinderung entsprechend angepasst werden.
Eine weiterer Punkt ist der Fokus auf die deutschsprachige Schweiz. Die Frage der Chancengleichheit für Lernende und Studierende mit Dyslexie und Dyskalkulie betrifft ebenfalls Menschen in den anderen Sprachregionen der Schweiz sowie in anderen Ländern.
Das Umsetzen von Chancengleichheit in der Bildung ist auch ein Anliegen im Zusammenhang mit den Geschlechtern und bei Menschen mit Migrationshintergrund. Männer und Frauen können von Dyslexie oder Dyskalkulie betroffen sein, wie Weisshaupt und Jokeit im Kapitel «Genetische Untersuchungen», S. 46, erläutern. Ebenso treten diese Störungen unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität auf. Auf die Dimensionen Geschlecht oder Migrationshintergrund wird nicht vertieft eingegangen.
Zusätzlich können bei Betroffenen weitere Beeinträchtigungen oder Behinderungen vorliegen, die in diesem Buch nicht behandelt werden, die aber in der Praxis zu berücksichtigen sind.
Schliesslich besteht bei der Auseinandersetzung mit einer Störung oder Behinderung immer die Gefahr, dass deren Auswirkungen einseitig Beachtung finden, die Fähigkeiten und Kompetenzen der Person hingegen zu wenig wahrgenommen und einbezogen werden, obwohl gerade diese Ressourcen für eine erfolgreiche Integration besonders wichtig sind.
Dieses Buch will die Fachleute in Unterricht, Beratung und Bildungsadministration anregen, Barrieren zu erkennen, zu beseitigen und den betroffenen Jugendlichen und Erwachsenen die erfolgreiche Integration in den Bildungsgängen