In der Schweiz wächst erst langsam das Bewusstsein, dass das Regelsystem des Bildungswesens Jugendliche und junge Erwachsene aufgrund ihrer Behinderung systematisch benachteiligen könnte. Bisher hat sich der Diskurs eher auf Fragen der sozialen Selektivität des Bildungssystems konzentriert.14 Die Sonderpädagogik konzentriert sich vorwiegend auf Fragen zur besonderen Unterstützung und Förderung und beschäftigt sich gemäss eher gesellschaftskritischen Autoren15 zu wenig mit Diskriminierungsprozessen der Schule. Da Förderentscheide immer Folgen einer Identifikation aufgrund eines Defizits sind und Betroffene gesonderten Massnahmen zuführen, können auch diese benachteiligend wirken. Es gibt Hinweise darauf, dass eine Identifizierung als «behindert» dazu führt, dass Lehrpersonen tiefere Leistungserwartungen haben,16 was sich insbesondere bei Laufbahnentscheiden negativ auswirken kann. Förderentscheide zugunsten einer Sonderschulung sind gleichzeitig Laufbahnentscheide, die oft den Zugang zu höheren Ausbildungsgängen verbauen.17
Bedingt durch die lange Tradition der gesonderten Förderung, die aus dem Regelunterricht ausgelagert wird, ist das reguläre Bildungssystem ungeübt im Umgang mit Behinderungen. Ohne gute Koordination verschiedener Dienstleistungen und ohne eine Begleitung im Übergang zur Berufsausbildung oder zu weiterführenden Schulen kann es so leicht zu Überforderungssituationen kommen. Welche Unterstützungen und Anpassungen wie angeboten werden, hängt dann oft von einzelnen Personen ab. Eine fehlende rechtliche Absicherung und somit eine grosse Abhängigkeit vom Wohlwollen der Entscheidungsträger muss als problematisch eingeschätzt werden.18 In den letzten Jahren wurden durch das in der Bundesverfassung verankerte Gleichbehandlungsgebot und den gesetzlichen Auftrag zur Beseitigung der Benachteiligung von Behinderten zwar die erforderlichen rechtlichen Grundlagen geschaffen, doch fehlt es noch an einer breiten Umsetzung durch eine entsprechende Rechtsprechung. Der Beitrag von Hördegen und Richli im dritten Kapitel dieses Buches ist unter dieser Perspektive von grosser Bedeutung. Es bleibt zu hoffen, dass die Rechte von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in den kommenden Jahren vermehrt in der schulischen Zuweisungs- und Prüfungspraxis berücksichtigt werden.
Der Umgang mit Behinderungen ist in Bildungssystemen auch deshalb so schwierig, weil sich je nach Schädigung und deren Ausprägung andere Fragen stellen – sowohl bezüglich Förderung als auch bei Entscheidungen zur schulischen und beruflichen Laufbahn. Obwohl die Wissensbestände sowohl zu Förder- und Unterstützungsmassnahmen als auch zu Nachteilsausgleich und Gleichstellungsmassnahmen heute gross sind, muss sich auf diesen Grundlagen erst eine gemeinsame Praxis entwickeln, bevor sich die Situation der betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen tatsächlich verbessert.
Professionell durchgeführte Bedarfsabklärungen und «Massnahmen am Individuum» genügen hier nicht, um diskriminierende Bildungsentscheide zu vermeiden. Die Anforderungen, welche Ausbildungsgänge der Sekundarstufe II und der Tertiärstufe an Jugendliche und junge Erwachsene stellen, müssen systematisch mit ihren behinderungsbedingten Lernvoraussetzungen verglichen werden können. Erst auf dieser Grundlage kann abgeschätzt werden, wo Unterstützung des Betroffenen und wo Adaptationen bei den Vorgaben oder Angeboten des Ausbildungsgangs angesagt sind. Damit diese Analyse gelingen kann, gilt es als Erstes zu sichern, dass ein gemeinsames, für Bildungssysteme nützliches Verständnis von Behinderungen aufgebaut werden kann, das sowohl für die Betroffenen selbst, für Personen in den Ausbildungsgängen als auch für Spezialistinnen und Spezialisten relevant ist. Dies ist eine wichtige Grundlage für die Etablierung eines konstruktiven Diskurses über Aufgaben, Verantwortung und Entwicklungsbedarf des Bildungssystems. Im nächsten Abschnitt soll deshalb der Frage nach einem adäquaten Verständnis von «Behinderungen» nachgegangen werden.
1.4 Sind Dyslexie und Dyskalkulie Behinderungen?
Wenn in Bildungssystemen das Wort «Behinderung» verwendet wird, denkt man meist an Kinder mit Downsyndrom, Körperbehinderungen oder an blinde und gehörlose Kinder. Auch sogenannte Lernbehinderte oder Verhaltensauffällige werden zumindest im Kontext Schule als behindert erachtet. Aber sind Dyslexie und Dyskalkulie oder Depression und Diabetes auch Behinderungen? Wie im Beitrag von Weisshaupt und Jokeit im zweiten Kapitel dieses Buches näher ausgeführt wird, gehören Dyslexie (respektive Lese- und Rechtschreibstörung) und Dyskalkulie (respektive Rechenstörung) gemäss ICD-1019 zu den umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten. Aber auch Depression und Diabetes sind in der ICD-10 erfasste Krankheiten oder Störungen. Das Besondere an Dyslexie und Dyskalkulie ist, dass diese Störungen direkt die in der Schule zu erwerbenden Fähigkeiten betreffen und deshalb fast unausweichlich zu Schwierigkeiten führen, etwa beim Schriftspracherwerb oder beim Erwerb mathematischer Fertigkeiten.
Dennoch ist es wichtig, zwischen der Störung und deren Auswirkungen zu unterscheiden. Während Dyslexie oder Dyskalkulie stabile Syndrome sind, sind die damit assoziierten Behinderungen von den spezifischen Anforderungen und den verfügbaren Hilfsmitteln und möglichen Anpassungen abhängig. Zu einer Behinderung gehört sowohl das «Behindertsein» als auch das «Behindertwerden». Ob es einer betroffenen Person gelingt, trotz dieser Störung eine Ausbildung erfolgreich abzuschliessen, hängt davon ab, wieweit sie selbst fähig ist, die vorliegende Störung zu kompensieren und damit umzugehen. Aber auch die schulische Umwelt ist von grosser Bedeutung; sie kann fördernd oder hemmend wirken. Wenn es um Bildung geht, müssen im Fall einer Behinderung zahlreiche Menschen eng zusammenarbeiten: Lehrperson, Eltern, schulische Heilpädagoginnen, Therapeuten, Ärztinnen und vermehrt auch Personen in der Schul- oder Bildungsverwaltung. Da kann es leicht passieren, dass Begriffe unterschiedlich verstanden, Phänomene verschieden eingeschätzt und falsche Schlüsse gezogen werden. Ein zentrales Problem in der Realisierung der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen ist, dass in den Schulen keine gemeinsame und kohärente Sprache etabliert ist, die das Behindertsein und Behindertwerden thematisieren kann.
Ergänzend zur ICD-10 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Klassifikation entwickelt, welche die Folgen von Störungen oder Krankheiten auf die Funktionsfähigkeit erfassen kann. Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit20 versteht «Behinderung» als das Ergebnis einer komplexen Interaktion zwischen der Funktionsfähigkeit einer Person und ihrer Umwelt. Die Funktionsfähigkeit wird auf der Ebene der Körperfunktionen und -strukturen (biologische Perspektive), der Aktivitäten (psychologische Perspektive) und der Partizipation (soziale Perspektive) erfasst. Das ICF-Modell erlaubt es, eine Störung gemäss ICD-10 zu definieren, die Folgen für die Funktionsfähigkeit zu beschreiben und gleichzeitig auch weitere Einschränkungen der Funktionsfähigkeit zu berücksichtigen – im jeweiligen Kontext der spezifischen Umweltbedingungen (Berufsschule, Ausbildungsbetrieb, Hochschule) und der personenbezogenen Faktoren (Geschlecht, Herkunft, Alter). Das komplexe Zusammenspiel dieser verschiedenen Komponenten wird wie folgt dargestellt:
Abb. 2: Modell der ICF
Quelle: WHO 2005
Lesen und Schreiben können gemäss ICF sowohl als Aktivitäten als auch als Partizipationsbereiche verstanden werden. Unter der Perspektive der individuellen Fähigkeiten werden Lesen und Schreiben als Aktivitäten verstanden; unter der Perspektive der