Die Gaben von Brot und Wein sind Gedächtnisgaben und schließen Gottes und der Menschen Gedächtnis in gleicher Weise ein. Sie sind die neu-testamentlichen Schaubrote, stellen Christus mit seinem Opfer vor Gott und die Menschen hin: »Indem die Kirche das Opfer Christi verkündigt, vollzieht sie auf dem Altar die Darstellung des Opfers des Sohnes vor dem Vater in Danksagung und Fürbitte, Lobpreis und Flehen. Wenn die Kirche das Geschehen am Kreuz darstellt, nimmt sie in Danksagung und Fürbitte teil an der Darstellung seines Opfers durch den Sohn vor dem Vater … Mit ihm und in ihm bringt sie dieses Opfer dem Vater dar: das gebrochene Brot und den eingegossenen Wein, den geopferten Leib und das vergossene Blut. So legt sie Fürbitte ein zur Verzeihung der Sünden und für die Nöte der Menschen und dankt zugleich für alle Großtaten Gottes.«122
Für Thurian erhalten auf dem Hintergrund der Anamnese als theologischer Sinngestalt auch andere Momente der liturgischen Feier ihre Bedeutung: »Die Anamnese ist das Gedächtnis der Geheimnisse Christi vor dem Angesicht Gottes und im Angesicht der Kirche – für die Kirche als Vergegenwärtigung, vor Gott als Darstellung.«123 Ihr innerstes Anliegen ist die Fürbitte Christi vor Gott für die Menschen. Wie Christus einerseits in der Himmelfahrt sein Opfer vor den Vater bringt und ihn an die Menschen erinnert, für sie fleht, letztlich um die Geistsendung für die Menschen fleht, so ist die Epiklese zugleich Ausdruck des Flehens Christi und der Kirche um den Geist: »Das Gedächtnis des Kreuzes in der Eucharistie geht über in die Bitte, der Vater möge den Heiligen Geist als Antwort auf das Opfer des Sohnes geben; dies ist vor ihm sakramental vergegenwärtigt und dargestellt als eine innige Fürbitte.«124 Wie der Vater auf die Fürbitte des Erhöhten an Pfingsten mit der Sendung des Geistes geantwortet hat, so nun in der Eucharistie: »Bei der Eucharistie ist somit der Heilige Geist als erster wirksam. In den Worten des Sohnes: ›Das ist mein Leib … Das ist mein Blut‹ ist er am Werk, um uns seine Gnadengaben mitzuteilen. Ohne das Wirken des Heiligen Geistes bliebe das Wort Christi leer; es hätte keine Wirkung, weder auf Brot noch Wein, noch auf die Kirche. Der Heilige Geist macht uns das ganze Geheimnis Christi lebendig, er macht aus der Anamnese eine echte Vergegenwärtigung des einen Kreuzesopfers in der Kirche und ein wirksames Gedächtnis dieser vollkommenen Fürbitte vor dem Vater … In der Kraft des Heiligen Geistes, der durch die Epiklese angerufen wird, bringt die Kirche dem Vater das Gedächtnis des Sohnes dar, und in ihr kann sie wirksam die Einsetzungsworte nachsprechen: ›Das ist mein Leib … Das ist mein Blut‹.«125 Thurian weist auf den zweiten Teil der Epiklese nach der Konsekration hin. Sie ruft den Heiligen Geist auf die Kirche herab, der ihr die pneumatische Gegenwart Christi geschenkt hatte126, damit auch sie über diese Gegenwart vom Geist erfüllt werde, den Christus erfleht.
Von der Anamnese über die Epiklese kommt Thurian zur somatischen Realpräsenz. Sie zeigt der Kirche an, daß ihr Herr konkret in ihrer Mitte ist und daß sie ihn unter einer konkreten Gestalt empfängt127, wobei »die Teilnahme am Leib und Blut Christi für einen jeden zugleich Teilnahme am Leib der Kirche ist. Durch die Kirche in Christus zu einer Opfergabe vereint, sind die Gläubigen durch die Teilnahme am Leib Christi unzertrennlich miteinander verbunden.«128
Wir dürften Thurian nicht falsch verstehen, wenn wir zusammenfassend sagen, daß die formale Sinngestalt der Eucharistie und des Abendmahles das alttestamentliche »Gedächtnis« ist. Die ins neutestamentliche Verstehen transponierte Anamnesis ordnet als theologische Grundgestalt die Präsenz Christi und seines Heilswerkes mit dem Opfer der Kirche zusammen, kann geschichtliche Entwicklungen einbeziehen und ist zugleich der Ort der Gegenwart Gottes, seines Geistes und der mitfeiernden Menschen. Formal ist dieses Gedächtnis Segensgedächtnis des Menschen und Gottes, Grund der Gegenwart Christi, Grund des Opfers der Kirche.
Dennoch erübrigt sich die Frage nach der theologischen Grundgestalt der Eucharistie auch hier nicht, denn es fragt sich, ob es einen Begriff gibt, der sowohl alttestamentliche Segensvorstellung, Gegenwart des Segens im Gedächtnis, wie auch Opfer und Hingabe an Gott so zusammenordnet, daß all dies mit einem Begriff benannt werden kann, ohne die von Betz sehr schön gezeigte christologische Konzentration zu sprengen. Biblisch gewendet heißt die Frage: Gibt es einen Begriff, der die formale Sinngestalt des Passamahles so einfängt, daß damit die Person Christi mit ihrem Heilswerk zugleich mit dem Abendmahlsgeschehen umgriffen werden kann?
d) Alexander Gerken
In seinem neuesten Büchlein129 arbeitet Gerken Jesus als den Konstruktionspunkt einer neuen Gemeinschaft und als Ausdruck des sich trotz dessen Todes durchhaltenden Versöhnungswillens Gottes heraus. Deshalb ist die Eucharistie Gedächtnis der Lebenshingabe Jesu, nicht nur des Abendmahles, sondern des gesamten Christusereignisses. Über dieses Gedächtnis tritt Christus in unsere Gegenwart ein und verdichtet seine Gegenwart in der Eucharistie. So bleibt die Versöhnung Gottes über den Tod Christi hinaus uns angeboten. Denn Christus ist nun als der Verherrlichte anwesend und will uns mit seinem vergangenen Leben, seinem Tod als der Hingabe an Gott und an die Menschen verbinden. Insofern ist Eucharistie Gegenwart des Opfers Christi und zugleich unser opferhaftes Einbezogenwerden in das Opfer Christi. Das wesentliche Moment dabei ist die Gegenwart Christi. Aus ihr entspringt die eigentliche »Struktur«130 der Eucharistie: »Gemeinschaft mit Jesus haben heißt: in die Bewegung zum Vater hineingenommen zu sein, unterwegs zu sein zur Gemeinschaft mit dem Vater. Wenn dies die umfassende Struktur des letzten Mahles war, so ist es auch die umfassende Struktur der Eucharistiefeier. Die frühe Kirche hat dies gewußt und eben deshalb hat sie der Abendmahlshandlung den Namen – ›Eucharistie = Danksagung‹ gegeben. Wie Jesus seine Gabe an die Jünger, das Brot und den Wein und damit seine Selbstgabe, eingebettet hat in den Dank an den Vater, so hat die Kirche die Brot- und Kelchhandlung eingebettet in einen liturgischen Rahmen, dessen Hauptinhalt der Dank an den Vater ist … Dieser Dank besteht im tiefsten darin, daß wir anerkennen, wie groß die Gabe Gottes ist. Wir können Gott ja nicht dadurch danken, daß wir ihm etwas geben, was er nötig hätte. Er ist schon das grenzenlose Leben. Alles, was der Mensch hat, ist schon Gabe Gottes, gehört Gott schon in seiner Wurzel. Der Dank des Menschen kann daher im tiefsten nur in der Bestätigung dieses Verhältnisses, in der Anerkennung der Tatsache bestehen, daß alles, was er ist und besitzt, Gabe Gottes ist. Darum besteht der Dank des Menschen letztlich wieder im Empfangen, im anerkennenden und dankbaren Empfangen der immer größeren Wohltaten Gottes.«131 Diese Struktur verwirklichen die eucharistischen Hochgebete. Insofern unser ganzes menschliches Leben von diesen Hochgebeten umfaßt wird und mit Christus verbunden ist, nimmt unser Leben an der eucharistischen Struktur der sakramentalen Eucharistiefeier teil und ist Christi Darstellung in der Welt132. Wir werden im Essen des Brotes als Leib Christi zu seinem Leib133, der um Christus als Mitte zentriert ist. Die Eucharistiefeier kann deshalb nicht zu einem »bloßen Gottesdienst«134 nivelliert werden. Sie muß sich im Alltag fortsetzen. Sie ist Sammlung und Sendung: »Gerade weil sie die Christen um einen Punkt, um Jesus Christus, den für uns Hingegebenen sammelt, sendet sie sie auch zu allen Menschen aus, weil Jesus für alle gestorben ist … Erst dann, wenn ›Gott alles in allen‹ ist, hat die Eucharistie als Sammlung und Sendung ihre Funktion erfüllt. Denn erst dann ist die Schöpfung selbst Eucharistie geworden, erst dann ist sie selbst der große Dank- und Lobhymnus an den Vater.«135 Dabei faßt die Eucharistiefeier zugleich die »Sehnsucht Jesu nach dem Reich des Vaters zusammen und ist daher sein Vermächtnis, sein Testament. Sie will auch uns einschwingen lassen in die Sehnsucht Jesu, will uns auf den Weg stellen, auf dem er uns vorangegangen ist.«136 Daher ist sie Wegzehrung, in der Christus kommt, bis er wiederkommt137.