»So, ja.« Kierle zögerte, aber bevor er sich entscheiden konnte, flötete Rogge freundlich: »Tschüss und danke, Norbert!«, und legte rasch auf.
Charlotte Bongartz stand in der Tür und sah ihn unsicher an: »Sie können aber sehr flüssig lügen.«
»Das lernt man, wenn man ein Leben lang schwere Jungens und leichte Mädchen verhört.«
»Den einen lassen Sie ausrichten, Sie führen nach Wiesbaden, Ihrem Freund flunkern Sie vor, Sie wollten nach Köln ...«
»Freund? Kierle ist nicht mein Freund«, stellte er klar. »Er ist Leiter des Staatsschutzes. Wenn ich mal ausnahmsweise ganz gute Laune habe, erzähle ich Ihnen, was ich von Staatsschutz und Verfassungsschutz halte.«
Darauf wusste Charlotte nicht, was sie antworten sollte, und er betrachtete sie erheitert. Die Tragweite dessen, was sie ihm bei dem Spaziergang am Beilhorner See erzählt hatte, konnte sie wohl nicht einschätzen, und Rogge dachte nicht im Traum daran, sie aufzuklären. Aber wenn er nicht ganz falsch lag, wurde sie verfolgt, weil sie bis jetzt die einzige Zeugin war, die Zinneck oder Tepper mit der Liga in Verbindung brachte. Mit seinem Anruf und Dörtes Botschaft hatte er signalisiert, dass jetzt auch mindestens ein Polizist diese Details kannte. Und was ein Polizist wusste, verbreitete sich auf dem Dienstweg nach der schönen Formel: erst zwei, dann vier, danach acht. Zu viele, um alle Mitwisser kaltzustellen oder zum Schweigen zu vergattern.
»Sagen Sie mal, Frau Bongartz, an dem Montag, an dem ich Ihnen mitgeteilt habe, dass Sie Charlotte Zinneck heißen - haben Sie da anschließend mit jemandem telefoniert oder gesprochen.«
»Darüber, dass Sie herausgefunden haben ... Nein.«
Zur selben Zeit hatte Kili per Computer, Faxgerät und Fernschreiber und E-Mail die Neuigkeit an alle möglichen Dienststellen verbreitet. Und von einer Stelle aus war diese Neuigkeit jemandem zu Ohren gekommen, der zwei Männer in Marsch setzte, um Charlotte Zinneck in ihrer Wohnung zu kidnappen.
»Warum sind Sie nicht mehr zu Ihrer Wohnung gefahren?«
Zu Rogges Erstaunen rang sie die Hände und schluckte so heftig, dass ihm plötzlich ein Licht aufging.
»Sie haben befürchtet, Schönborn sei ein Ligist?«
Sie wurde so bleich, dass er aufsprang, um sie festzuhalten, aber sie fing sich: »Ja, ja, natürlich.«
So natürlich war das nicht, aber er verstand, welche Zweifel sie an dem Abend überfallen hatten, als sich vor dem Plakat des Reisebüros der Vorhang hob. Ein reicher Mann, der sie an Hans Zinneck oder Wolfgang Tepper erinnerte, bemühte sich um sie, eine hilflose Frau, die nicht wusste, wer sie war. Nahm sie quasi in sein Haus mit, begann ein Verhältnis mit ihr, bot sich als Schutz und Helfer an. Wenn es nun keine Zuneigung war, sondern Kontrolle? Ihrem Ehemann hatte sie nicht vertrauen dürfen, warum sollte sie sich auf Achim Schönborn verlassen?
»Wann haben Sie Schönborn kennen gelernt? Vor oder nach dieser Fernsehsendung?«
»Nachher.« Sie schwankte.
»Setzen Sie sich!«, befahl Rogge und führte sie zu dem einzig freien Stuhl; alle anderen Sitzgelegenheiten hatte Dörte wieder mit Akten belegt. Charlotte weinte nicht, aber hielt die Tränen nur mit Mühe zurück. Daran hätte er eher denken müssen: Mit ihren Erfahrungen musste sie doch allen Menschen misstrauen. Auch ihm. Auch einem Achim Schönborn, der - wie er sich nur zu genau erinnerte - aus seiner konservativen bis reaktionären Gesinnung kein Hehl machte und für Polizei und Gesetze nur Hohn und Spott übrig hatte. Speziell für Staatsanwälte. Wenn es diese Liga tatsächlich gab und sie sie richtig beschrieben hatte, war Schönborn ein Top-Kandidat für diesen Verein.
Dörte knurrte und knallte den Schlüssel auf den Tisch: »Sie haben’s geschluckt.«
»Zivilfahnder?«
»Ja. Halte dich fest - zu deinem Schutz abgestellt!«
»Wer’s glaubt, wird selig.«
»Und ich werde nach allem, was ich für dich tue, heilig gesprochen.«
»Heilige trinken keinen Cognac«, beschied er sie fröhlich. »Danke dir, wir verschwinden.«
»Und wohin?«
»Ins Ausland.«
»Na, dann viel Spaß.«
Ganz Baden-Württemberg schien auf Achse zu sein und die Mehrheit bewegte sich offenbar Richtung Bodensee. Obwohl Rogge angeboten hatte, Charlotte in ihre Wohnung zu begleiten, lehnte sie ab und deswegen opferten sie eine Stunde in Neuenburg, um das Nötigste für sie einzukaufen, damit die Reisetasche nicht ganz leer blieb. Anfangs sträubte sie sich, Geld von ihm anzunehmen, aber als er sachlich fragte, wie sie denn in der Schweiz die Fahrkarte nach Zürich bezahlen wollte, willigte sie ein; den Schuldschein lehnte er wiederum ab: »Meine Adresse haben Sie ja.«
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Gar nicht. Außerdem ruinieren Sie mich nicht.«
»Aber Sie werden fürchterlichen Ärger kriegen,«
»Meinen Sie?« Er gluckste. »Das glaube ich nicht. Ich habe mittlerweile den dumpfen Verdacht, dass einige Stellen, die zur Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung aufgerufen sind, uns wie Schachfiguren hin und her schieben wollten. Plötzlich spielen die Figuren nicht mehr mit, was sehr peinlich ist, und deshalb wird der Amtsmechanismus greifen. Keiner war’s, keiner wollte was, man geht kollektiv in Deckung.«
Darüber grübelte sie bis zur nächsten Vollbremsung, es hatte sich schon wieder ein Stau aufgebaut, und seufzte: »Das alles kommt mir manchmal wie ein Albtraum vor.«
»Auch daran gewöhnt man sich!«, tröstete Rogge.
Weil es schon dämmerte, versuchten sie gar nicht erst, ein Hotel auf der Insel zu finden, sondern mieteten sich in einem mächtigen vierstöckigen Bau aus der Zeit der Jahrhundertwende ein. Zwei Einzelzimmer, die letzten, ganz großes Glück, dass vor einer Viertelstunde ein Gast abgesagt hatte; Rogge starrte den älteren Mann unbewegt an und zeigte sich nicht im Geringsten beeindruckt, was den grauhaarigen Knaben mächtig verstimmte. So konnte man Kunden auch vergraulen, aber das behielt Rogge für sich.
Eine Martha Zinneck war tatsächlich im Telefonbuch eingetragen; Rogge rieb sich über das knisternde Kinn und strich alle Pflichten für heute: Morgen war auch noch ein Tag.
In der Halle schauten sie sich unsicher an und lachten wie auf Kommando los: Beide unterdrückten ein Gähnen.
»Zu früh, um schon ins Bett zu gehen!«, befand Rogge.
»Aber zu müde für einen großen Stadtbummel.«
Ein Taxifahrer empfahl ihnen ein Restaurant und sie folgten seinem Rat. Das mächtige Frühstück lag ihm noch im Magen, Rogge hielt sich lieber an den Wein, der herrlich entspannte.
»Kennen Sie Lindau?«, fragte Charlotte unvermittelt.
»Kennen wäre zu viel gesagt, ich bin vor Jahren einmal hier gewesen. Mit meiner Frau, auf einer Urlaubsreise.«
»Mich hat’s immer schon nach Frankreich gezogen.« Wahrscheinlich hatte ihr genau das an Zinneck gefallen. Oder auch imponiert, weil er nicht nur perfekt Englisch und Französisch sprach, sondern in beiden Ländern und Kulturen lebte, sich dort zu Hause fühlte. Wenn sie zusammen eingeladen wurden, beneidete sie ihn manchmal wegen der Selbstverständlichkeit, mit der die Franzosen Zinneck akzeptierten, so, als habe er schon immer zu ihnen gehört. Auch nach Jahren, die Charlotte in Frankreich gelebt hatte, war sie immer noch die Deutsche gewesen, »Jean« dagegen besaß zufällig einen deutschen Pass. Es hatte sie gekränkt, bis sie begriff, dass Zinneck ihre Verstimmung gar nicht verstand, weil er es nie anders kennen gelernt hatte. Es hatte auch nicht unbedingt mit Selbstbewusstsein zu tun, an dem es ihm übrigens nicht fehlte, sondern mit seiner Unbefangenheit.