»Und was hat Sie an den Beilhorner See verschlagen?«
»Ein Freund von Achim hat hier ein Boot liegen, da hab ich mich versteckt.« Sie schüttelte sich und trat vor Kälte von einem Fuß auf den anderen. »Heute Nacht sind sie dann gekommen.«
»Wer?«
»Ich weiß es nicht. Die Männer, die schon lange hinter mir her sind.«
Sie schlug die Arme um sich und Rogge gab sich einen Ruck.
»Was halten Sie von einem ordentlichen Frühstück?«
»Ganz, ganz viel«, antwortete sie und ihre hysterische Heiterkeit warnte ihn.
»Prima. Haben Sie noch Sachen auf dem Boot?«
»Meine Handtasche. Und meine Jacke.« Unwillkürlich griff sie nach der aufgesetzten Blusentasche und kicherte schrill, während sie ihm seine Visitenkarte zeigte. »Die hatte ich immer bei mir.«
»Sehr schmeichelhaft für mich«, blaffte Rogge sie an und sie fuhr zusammen. Jetzt bloß kein Ausrasten, das Schlimmste hatten sie schließlich überstanden.
Das Boot war ein winzig kleines Versteck und noch nicht für den Winter hergerichtet; Rogge schauderte bei dem Gedanken, darin übernachten zu müssen. Die Kajüte war eng und sie musste ziemlich gefroren haben. Sie kehrte mit einer scheußlichen Wolljacke zurück, die ihr bis auf die Oberschenkel reichte. Weil sie seinen Blick richtig deutete, erklärte sie trotzig: »Mehr Geld konnte ich nicht ausgeben.«
»Warum haben Sie Schönborn nicht um Hilfe gebeten?«
Ihr Gesicht verschloss sich, darauf wollte sie nicht antworten. Noch nicht. Schweigend gingen sie auf das Hotel zu. Charlotte Zinneck zögerte, als er vom Weg abwich und auf die Stelle zusteuerte, an der die Leiche gelegen hatte. Weg, keine Spur, und nur wer sehr genau hinschaute, entdeckte die Schäden, die sie heute Morgen an Blumen und Sträuchern angerichtet hatten. Das Glas der Verandatür war zersplittert, nun ja, darüber würde sich später ein Gast beschweren, aber ein vernünftiger Betrieb hatte eine Versicherung.
»Wo ist - was ist ...?«, stammelte sie.
»Die haben ihren toten Kumpanen mitgenommen«, erklärte er flach. »Zum Glück. Sonst müssten Sie und ich meinen Kollegen viel erzählen.«
Das Motel hatte geöffnet, die junge Frau an der Rezeption gähnte verstohlen und betrachtete sie abschätzig. » Nein, kein Zimmer, brummte Rogge und freute sich über ihre Verwirrung, aber ein Frühstück, und zwar ein gewaltiges.«
»Ja, ja, natürlich - dort, im Restaurant.«
Sie plünderten das Buffet, als würden morgen die sieben biblischen mageren Jahre anbrechen, und Charlotte Zinneck langte zu, als habe sie seit einer Woche gehungert.
Nach der Arbeit in der Bäckerei war sie mit dem Bus zum Bahnhof gefahren und hatte sich einfach in einen Zug gesetzt. Ohne Fahrkarte, sie hatte nicht einmal gewusst, wohin der Zug fuhr. In Rollesheim war sie aus gestiegen, weil im Nebenwagen ein Schaffner kontrollierte, und hatte sich die billigste Pension im Ortszentrum gesucht. Um drei Nächte bezahlen zu können, hatte sie tatsächlich auf Mittag- und Abendessen verzichten müssen, vor allem, nachdem sie diese scheußliche, aber warme Jacke gekauft hatte.
»Schönborn hätte Ihnen doch geholfen - oder?«
»Sicher«, erwiderte sie so kurz, dass er aufhorchte.
»Werden Sie ihn anrufen?«, forschte er.
Darauf antwortete sie nicht, er sah förmlich, wie ein Vorhang vor ihrem Gesicht niederging, und widmete sich leise seufzend wieder seinem Teller. Auch sie schwieg, bis er ihr sein Zigarettenpäckchen hinhielt.
»Danke. Erst ein Loch im Magen und jetzt platze ich.«
»Dagegen kenne ich ein hervorragendes Mittel.«
»Ja?« Sie lächelte, sparsam, aber immerhin, und wich seinem Blick nicht aus.
»Ein großer, langer Spaziergang.«
Nach einer Weile nickte sie versonnen: »Ja, Sie haben Recht, ich möchte mich bewegen.«
Rund um den See gab es einen bequemen Weg, den sie zu dieser frühen Stunde für sich allein hatten. Nach zehn Minuten spürte Rogge die nasse Kühle nicht mehr. »Also, Frau Zinneck, Lebensrettung und Frühstück haben ihren Preis.«
»Damit geht’s schon los. Ich heiße nicht Zinneck.«
»Nein?«
»Nein.« Sie stöhnte so tief, dass er trotz seiner Spannung lachen musste. »Nein, ich heiße Charlotte Bongartz.«
»Das fängt ja gut an«, lästerte er, weil er nicht wollte, dass sich ihre düstere Stimmung festsetzte.
»Und es wird noch besser. Es ist nämlich eine lange, unglaubliche Geschichte.«
»Darauf bin ich geeicht.«
»Hoffentlich. Ich bin achtunddreißig Jahre alt, Herr Rogge. Ein Einzelkind aus steinreichem Hause, wie man so schön sagt. Mein Vater ist kurz vor meinem Abitur gestorben, meine Mutter, als ich fünfundzwanzig Jahre alt war, und danach war ich eine reiche Erbin. Sehr wohlhabend sogar. So reich, dass ich nicht arbeiten musste und Nürnberg verlassen habe. Für immer. Ich bin nach Frankreich gegangen und habe mir ein Häuschen in der Nähe von Cannes gekauft.« Nach einer kleinen Pause setzte sie verschlossen hinzu: »Und aus vielen Gründen alle Fäden zu meiner Vergangenheit gekappt.«
Rogge unterbrach sie nicht, sie wollte es eben auf ihre Art erzählen.
»In Cannes habe ich eine Französin kennen gelernt, die eine Keramikwerkstatt betrieb, dort bin ich später Teilhaberin geworden. In dem Geschäft habe ich einen Deutschen getroffen und nach zwölf Monaten haben wir geheiratet. Das war vor ziemlich genau vier Jahren.«
Die beiden letzten Sätze hatte sie so schnell und trotzig herausgestoßen, dass Rogge sich seinen Teil dachte, aber nur stumm nickte.
»Hans Zinneck hieß er.« Sie legte den Kopf herausfordernd schräg, aber den Gefallen, eine Frage zu stellen, tat Rogge ihr nicht.
»Zinneck arbeitete für eine internationale Investmentfirma in Marseille und verdiente ein Schweinegeld.«
Ein Schweinegeld. Sprache war verräterisch, sinnierte er, aber damals, als sie ihn heiratete, hatte sie daran keinen Anstoß genommen. Reicher Mann verliebt sich in schöne, reiche Frau.
»Einen Monat nach unserer Heirat sind wir aus Cannes weggezogen.«
»Und wohin?«
»Zuerst nach Frankfurt. Dann nach München, nach Stuttgart, Hamburg, Berlin, Hannover.«
»Etwas viel Umzüge für drei Jahre, nicht wahr?«
»Woher wissen Sie ...? - Ach so, ja. Völlig richtig. So viele, dass ich - unruhig wurde.« Sie kickte zwei Kiefernzapfen zur Seite. »Es waren nämlich keine Umzüge, Herr Rogge.«
»Sondern?«
»Von einem möblierten Haus in das andere. Oder auch in Hotels. Apartmenthäuser. In den drei Jahren meiner Ehe waren wir praktisch immer auf Achse.«
»Aus beruflichen Gründen?«
»Das hat Hans Zinneck mir einzureden versucht und zu Anfang hab ich ihm das auch geglaubt. Bis mir der schreckliche Verdacht kam, er sei auf der Flucht.«
»Auf der Flucht?«, wiederholte Rogge verblüfft. »Vor wem denn?«
»Das wollte er nicht verraten. Wissen Sie, vor der Hochzeit, in Cannes, war er - gesellig, ging gerne auf Partys, machte allen möglichen Spaß mit, feierte, hatte Freunde, ließ fünf auch mal gerade sein, und wenn er Lust hatte, flogen wir mal eben nach Paris oder London oder Rom.«
»Aber danach ...«
»Veränderte er sich. Und zwar rapide! Sobald ich irgendwo