»Hat Zinneck seine Geschäfte nie erwähnt?«
Selten, sehr selten sogar. Man brauchte lange, um zu merken, dass er sehr verschwiegen sein konnte. Diskret, so nannte er es ironisch, aber das war eine Beschönigung, manchmal redete er viel, um viel zu verschweigen. In Cannes hatte Zinneck mit einer Gruppe französischer Geschäftsleute verhandelt, die in Nordafrika investierten, und Kontakte zu deutschen und englischen Geldgebern und Produzenten hergestellt. Das lag ihm, er dirigierte gerne andere Menschen an unsichtbaren Fäden, dann blühte er auf. Anfangs hatte Charlotte seine Klugheit, sein Fingerspitzengefühl bewundert und erst später voller Unbehagen registriert, dass Zinneck gerissen war. Doch da waren sie schon verheiratet gewesen - sie verbesserte sich: Da hatte sie angenommen, mit ihm verheiratet zu sein, obwohl Zinneck von seiner ersten Frau noch nicht geschieden war.
»Hat er nie von seiner Familie erzählt?«
Doch. Dass seine Mutter hier in Lindau lebte und von ihm nichts mehr wissen wollte. Der Vater bei einem Arbeitsunfall umgekommen, zwei Schwestern, beide verheiratet, mit den Schwägern verband ihn eine herzliche Abneigung. Man ging sich aus dem Wege, seit Zinneck sich früh von der Familie losgesagt hatte.
»Sind Sie nicht misstrauisch geworden?«
Nein. Nicht, solange sie in Frankreich wohnten. Auch noch nicht, als er plötzlich darauf drängte, fortzuziehen. Manches hätte ihr auffallen müssen, aber damals - sie verstummte und schob mit gesenktem Kopf ihr Glas hin und her. Nach einer langen Pause atmete sie tief durch. Jetzt durchschaute sie seine Taktik. Wie ein dummes Gör war sie darauf hereingefallen. Erst bemühte er sich um sie, bis sie mit ihm ins Bett stieg, dann zeigte er ihr die kalte Schulter und brachte sie dazu, ihm nachzulaufen. Ein uralter Trick, wie oft hatte sie sich über Romane geärgert, in denen Frauen so dumm dargestellt wurden und den Männern in die Falle nachliefen. Dass sie selbst ... Aber da war es zu spät gewesen und er hatte sie nie mit anderen Frauen betrogen. Belogen, getäuscht, hingehalten, ja, aber nicht betrogen. Rogge schaute sie stumm an und spürte, wie seine Zweifel wieder wuchsen.
»Vor diesem Abend in Kassel hat er das Wort Liga nie ausgesprochen?«
Nein. Nicht direkt. Manchmal hatte Zinneck ein Konsortium erwähnt und darunter hatte sie sich eine Gruppe von Kaufleuten oder Financiers vorgestellt, mit denen er über Kreuz geraten war. Doch warum - sie zuckte die Achseln. Geschäftlich ging’s ihm nicht schlecht, Geld war immer da, und Charlottes leise Befürchtung, Zinneck habe es auf ihr Erbe abgesehen, war schnell verflogen. Nur diese Unruhe, dieses ewige Umziehen, Weiterziehen ... Natürlich stimmte was nicht mit ihm, und als Zinneck sich weigerte, ihr Rede und Antwort zu stehen, starb ihre Liebe.
Warum hatte Zinneck sie überhaupt geheiratet - oder, wenn alle Einzelheiten stimmten, so getan, als heiratete er sie? An ihrem Geld schien er nicht interessiert zu sein, große Liebe hatte er für sie wohl auch nicht empfunden, da drängte sich natürlich der Verdacht auf, dass er Charlotte als Schutz benötigte. Falls Zinneck wirklich vor diesem Konsortium geflohen war, das sich vor einer Zeugin hüten musste. Denkbar, sozusagen um vier oder fünf Ecken gedacht, und so schien Zinneck vorgegangen zu sein, war auch ein anderes Motiv. Eine reiche Erbin erklärte, dass Zinneck über viel Geld verfügte, zumindest nach außen hin, und wenn er bei einem Geschäft, in das er als V-Mann eingeschleust worden war, wirklich abgesahnt hatte, würde sein Führungspersonal eine Begründung für diesen plötzlichen Reichtum verlangen. Zinneck wäre nicht der erste V-Mann gewesen, der zuletzt drei Herren diente, dem Auftraggeber, den Überwachten und sich selbst. In dieser Grauzone von Lüge, Gefahr und Abenteuer versagten viele, weil die tägliche Anspannung sie überforderte und die ständige Versuchung Maßstäbe verschob. Wenn Rogge mit einem Informanten redete, ging er immer davon aus, dass der Mann seine Kenntnisse auch der anderen Seiten verkaufte, aus Geldgier und aus Selbstschutz.
Charlottes vorwurfsvolles Hüsteln riss ihn aus seiner Grübelei: »Soll ich Ihnen mal sagen, was ich heute wirklich glaube?«
Rogge blubberte ein Ja und beäugte sie aufmerksam.
»Er war ein Spieler. Keiner, der sich beim Roulette oder an diesen Automaten ruinierte, aber einer, der ohne diesen Kitzel nicht leben konnte, alles auf eine Karte zu setzen.«
»Ja«, stimmte Rogge zu und lächelte befreit. »Zu diesem Schluss bin ich auch gekommen.«
»Dann verraten Sie mir mal, wieso ich ausgerechnet auf einen Spieler hereingefallen bin.«
Mit der Antwort ließ Rogge sich viel Zeit. Charlotte war eine hübsche, attraktive und intelligente Frau; selbst das billige Kleidchen, das sie in Neuenburg gekauft hatte, stand ihr gut und das Dämmerlicht in der niedrigen Gaststube verdeckte die Müdigkeit in ihrem Gesicht. Ob sie eine ernsthafte Frage gestellt hatte? Natürlich konnte Rogge sie trösten: Säufer und Spieler entwickelten fantastische Fähigkeiten, ihre Umgebung zu täuschen, ihre Sucht zu verheimlichen. Und ein Betrüger, der nicht charmant und zuvorkommend auftrat, hatte seinen Beruf verfehlt. Aber wollte sie das alles wirklich hören?
Charlotte schnitt eine ironische Grimasse: »Hiermit ziehe ich meine Frage zurück.«
»Meine Antwort hätte Sie auch nicht überzeugt.«
»Ich heiße tatsächlich Charlotte.«
Er verbeugte sich: »Jens.«
»Aber eine Verkürzung kann ich nicht leiden.«
»Charly, nicht wahr?«
Sonntag, 1. Oktober
Rogge hatte wie ein Toter geschlafen, und ohne diese Erschöpfung wäre es nicht bei einem Kuss vor der Zimmertür geblieben. Doch so war es besser, sie mussten sich heute trennen und sie konnten sich unbefangen ansehen. Ein böser Traum hatte ihn aufgeweckt, ein junger, gesichtsloser Mann mit zwei Pistolen in den Händen stürmte auf ihn los und schoss an ihm vorbei, traf einen anderen, der ebenfalls bewaffnet war und tot zusammenbrach. Den Wunsch seines Unterbewusstseins, sich für den Tod des Mannes vor dem Bellhorner Motel zu rechtfertigen, verstand er, doch mit diesem Bild würde er noch lange leben müssen. Er fühlte sich nicht schuldig, sondern verantwortlich, ein winziger, doch wichtiger Unterschied, das hatte er sich eingestanden. Doch selbst wenn seine Erinnerung ihm bestätigte, dass er in Notwehr geschossen hatte, bildete das nur einen schwachen Trost.
»Wenn man zu viel geschlafen hat, ist man schrecklich faul«, begründete Charlotte ihren Wunsch nach einem weiteren Kaffee.
»Ob die Schiffe auch so denken?«
»Schon verstanden. Du bist ein Sklaventreiber.«
»Na prima, dann also auf zum Rudern.«
Zwanzig Minuten später bremste Rogge vor einem winzigen Häuschen, das mit wildem Wein bis unter das Dach zugewachsen war. Über Nacht hatte es geregnet und die schwüle Feuchtigkeit verursachte Kopfschmerzen. Um diese Zeit war die schmale Gasse menschenleer, in dem grauen Licht wirkte sie trostlos, ja schäbig.
»Muss ich mitkommen?«
Das hatte Rogge sich auch schon überlegt. »Nein, ich gehe besser alleine.«
Das verrostete Gittertor im Zaun klemmte und quietschte lauter als jede Klingel. Ein Dackel kam um die Hausecke gebraust und bellte sich die Lunge aus dem Leib, wurde aber umgehend friedlich, als sich Rogge bückte und ihn hinter den Ohren kraulte.
»Ja, Sie wünschen?« Sie stand sehr gerade, sehr aufrecht unter der Tür und blitzte ihn an. Wahrscheinlich hatte sie die achtzig erreicht, das Alter hatte seinen Tribut von ihren Kräften gefordert, jedoch nicht von ihrer Wachsamkeit.
»Guten Tag, Frau Zinneck, mein Name ist Rogge.«
»Guten Tag.« Ihre Musterung war offenbar zu ihrer Zufriedenheit ausgefallen, denn sie lächelte schwach, und wie Rogge sie einschätzte, verließ sie sich auch auf ihren Dackel, der neben Rogge saß und fröhlich hechelte.
»Ich würde mich gerne nach Ihrem Sohn Hans erkundigen«, begann Rogge sehr vorsichtig und erschrak