»Christa, ganz allein hier am Fenster?«
»Ehm, ja, Hallo…«
Ein grosser, hagerer, weisshaariger Mann blickte sie durch eine runde Brille hindurch mit traurigen Augen an.
»Ich bin Andreas Vischer, Lehrer für Latein und Philosophie, unter anderem auch in der 4c.«
»Ach ja, jetzt erinnere ich mich. Entschuldige, ich wurde gestern so vielen Leuten vorgestellt…«
»Überhaupt kein Problem, ich kenne das. Wie war denn dein erster Tag gestern?«
»Überraschend gut, darf ich sagen. Nur jetzt dieser Tiefschlag… Hast du Monika gut gekannt? Kannst du dir vorstellen, warum…?«
Andreas Vischer zuckte mit den Achseln. »Auch ich fühle mich total geknickt und sehr traurig. Ja, ich kannte Monika sehr gut, wir haben ja schon lange zusammengearbeitet und uns auch privat ab und zu gesehen. Ich bin absolut ratlos, was da passiert sein könnte.«
»Ja, ratlos ist das richtige Wort«, seufzte Laura Waser, die soeben hinzugetreten war. »Mitten aus dem blühenden Leben gerissen, wer kann das begreifen? Monika war doch überall beliebt! Ich kann mir nur vorstellen, dass es irgendein Irrer war, der sich im Wald wahllos ein Opfer ausgesucht hat.«
»Ja, das scheint auch mir die einzige Möglichkeit zu sein«, stimmte Andreas zu. »Aber es bringt ja nichts, wenn wir hier spekulieren. Es ist Sache der Polizei, das Verbrechen aufzuklären. Ich verziehe mich jetzt nach Hause und versuche, mit dem Studium eines lateinischen Gedichtes meine trüben Gedanken zu verscheuchen. Ich wünsche euch noch einen guten Tag.«
Nun, jeder hat da seine eigenen Methoden, sich zu zerstreuen, dachte Christa und machte sich ebenfalls auf den Heimweg.
Lukas Lauber hatte fast eine Stunde neben der Leiche ausharren müssen, bis endlich die zwei Männer von der Pathologie eintrafen. Sie legten die Tote in einen einfachen Sarg und trugen diesen zum breiten Waldweg, wo der Leichenwagen stand. Lukas konnte mitfahren und ging dann zu Fuss von der Pathologie zurück ins Präsidium, wo er seine Chefin, Silvia Stauber, kurz über den Fall informierte. Danach rief er Anna Auer auf ihrem Handy an. Sie war gerade unterwegs zu Monika Sarasins Eltern und sagte, sie benötige bis auf weiteres keine Unterstützung. Lukas musste zuerst einen Anflug von Enttäuschung überwinden. Dann gab er sich einen Ruck, holte am Automaten einen Kaffee und machte sich schweren Herzens daran, seinen Pendenzenberg zu verkleinern.
Zunächst wartete da das Protokoll zum Verhör dieser zwei Schlägertypen. Am Sonntagabend waren sie vor dem Restaurant Sternen im Kleinbasel aufeinander losgegangen. Die Bilanz der Schlägerei: Mehrere Fleischwunden, die genäht werden mussten, zwei ausgeschlagene Zähne und ein gebrochener Zeigefinger. Leider waren die Augenzeugen erst dazugekommen, als die Schlägerei schon in vollem Gange war. Und die Aussagen der zwei Kämpfer selbst waren so widersprüchlich, dass man unmöglich feststellen konnte, wer weshalb angefangen hatte, und wer zuerst sein Messer zog. Lukas musste sich richtig dazu zwingen, das Protokoll niederzuschreiben. Was kann denn die Polizei in so einem Fall machen? Die Schläger sind mit ihren Wunden wohl schon genug bestraft, dachte er, vielleicht erhalten sie dazu noch eine Busse, aber nächstes Wochenende gehen wieder irgendwo zwei andere aufeinander los…
Die nächste Pendenz war der Überfall in der Kantonalbankfiliale am Morgartenplatz. Gestern Morgen hatten, kurz nach Schalteröffnung, zwei maskierte und bewaffnete Männer die Angestellten zur Herausgabe von Bargeld gezwungen. Einer der Mitarbeiter konnte zwar den Alarmknopf drücken, aber als die Polizei eintraf, waren die Räuber schon mit einem Auto geflüchtet, in dem ein Dritter gewartet hatte. Immerhin, einer der Bankangestellten hatte den schwarzen Mazda noch davonfahren gesehen und sogar die Kontrollschildnummer notieren können. Die sofort ausgelöste Grossfahndung hatte schnell einen Teilerfolg gebracht. Eine Stunde später wurde der Mazda in Delémont angehalten, der Fahrer verhaftet und ein Drittel des Geldes sichergestellt. Der Verhaftete hatte sich aber bisher geweigert, Angaben zu seinen Komplizen zu machen. Lukas sah die Unterlagen zum Fall nochmals durch und machte sich dann auf den Weg ins Untersuchungsgefängnis, um den Mann ein zweites Mal zu befragen.
Um elf Uhr kehrte Lukas frustriert in sein Büro zurück. Die Befragung war erneut ergebnislos geblieben. Trotzdem gab es noch Hoffnung, die Komplizen zu finden. Im Auto hatte man nämlich mehrere Fingerabdrücke sowie Hautzellenmaterial gefunden. Falls die Fingerabdrücke oder die genetischen Profile der Flüchtigen bereits in einer Polizeidatenbank gespeichert waren, würde man sie identifizieren können. Ein weiteres Problem wäre dann aber, die flüchtigen Männer auch noch aufzuspüren. Jetzt galt es einfach, die Laborergebnisse abzuwarten.
Lukas nahm sich das nächste Dossier vor. Häusliche Gewalt, auch so ein leidiges Thema, mit dem die Polizei täglich konfrontiert war. Ein Mann hatte im Breitequartier seine Frau so brutal zusammengeschlagen, dass sie mit gebrochenen Rippen und etlichen Prellungen ins Spital eingeliefert werden musste. Schwere häusliche Gewalt war -– zum Glück für die Opfer – seit dem Jahr 2004 in der Schweiz ein Offizialdelikt, das heisst, die Behörden waren verpflichtet, solche Fälle zu verfolgen, unabhängig davon, ob das Opfer einen formellen Strafantrag stellte oder nicht. Früher hatten die misshandelten Frauen leider oft darauf verzichtet, einen Strafantrag gegen ihren Partner zu stellen, und in diesem Fall waren der Polizei die Hände gebunden gewesen. Lukas tippte die Befragungsprotokolle der Frau und ihres Mannes in den Computer. Der Richter würde es schwer haben, sein Urteil zu fällen. Die Aussagen der beiden wichen ganz erheblich voneinander ab, und Zeugen gab es keine. Lukas seufzte, schloss den Bericht ab und begab sich in die Kantine zum Mittagessen.
Nachdenklich ging Annina Burckhardt in ihrem Büro auf und ab. Sie sah die nächsten Tage wie eine riesige dunkle Wolkenwand auf sich zukommen. Die Aufregung innerhalb der Schule und in der Öffentlichkeit würde gigantische Ausmasse annehmen. Sie sah die Schlagzeilen in der Presse schon vor sich: Mord an einer beliebten Lehrerin! Einen vergleichbaren Mordfall hatte es wahrscheinlich in den Basler Schulen noch gar nie gegeben. Annina Burckhardt hasste alles, was die Ordnung des Schulbetriebes störte. Die ersten ein oder zwei Wochen des neuen Schuljahres konnten praktisch abgeschrieben werden. Und wie sollte sie kurzfristig einen Ersatz für Monika auftreiben? Nichts als ungelöste Probleme… Aber da musste sie jetzt einfach durch!
Es klopfte an der Tür.
»Ich bin‘s«, hörte Annina eine wohlbekannte Männerstimme.
Oh je, auch das noch, dachte sie. Muss der jetzt aufkreuzen? »Also, komm!«
Andreas Vischer kam herein, trat neben die am Fenster stehende Frau und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Es tut mir so leid.«
»Fass mich nicht an«, zischte Annina, machte sich resolut frei und stellte sich hinter ihren Schreibtisch. »Es ist vorbei zwischen uns, ist dir das nicht klar?«
Andreas hob unsicher die Hände. »Doch, absolut. Ich wollte dich ja nur in dieser schwierigen Situation ein wenig trösten und dir Mut machen.«
»Papperlapapp! Mut habe ich selber genug! Und den Trost brauchst doch vor allem du! Du wirst Monika bestimmt wahnsinnig nachtrauern.«
Andreas Vischer hatte seinen Kopf gesenkt und machte unschlüssig ein paar Schritte hin und her. Was sollte er jetzt nur machen? Ach, es war sowieso egal, er hatte beide Frauen endgültig verloren!
»Also dann…«, murmelte er und verliess das Rektoratsbüro.
Anna Auer hatte Monika Sarasins Eltern telefonisch ihren Besuch angekündigt. Sie hatte nur erwähnt, ihre Tochter sei verunfallt, aber Monikas Mutter hatte sofort die Vermutung geäussert, dass sie nicht mehr am Leben sei.
Anna war dann von der Innenstadt aus mit dem Tram Nummer drei hierher ins Gellert gefahren. Dieses Quartier von Basel wurde früher traditionell von der betuchteren Bevölkerungsschicht bewohnt. Noch vor sechzig