»Liebe Frau Staehelin«, fuhr die Kommissarin ärgerlich dazwischen, »denken Sie bitte daran, es geht hier nicht um ein Kavaliersdelikt, es geht um den Mord an Ihrer besten Freundin, da sind solche Rücksichten überhaupt nicht angebracht!«
»Sie hat absolut recht«, bestätigte Peter Sarasin, der soeben wieder hereingekommen war, »du musst alles sagen, was du weisst. Ich selber kann dazu leider nicht viel beitragen.«
Patrizia seufzte. »Ja, es muss wohl sein. Wobei auch ich nicht sicher bin, ob Monika mir wirklich alles verraten hat. Aber ich sage Ihnen alles, was ich weiss. Also, Monikas letzter Liebhaber war Andreas Vischer, einer der Lehrer am Gymnasium. Mindestens fünfzehn Jahre älter als sie. Ich habe mich echt darüber gewundert, als sie mir von ihm erzählte. Sie hat Andreas dann vor ungefähr einem Monat verlassen.«
»Wissen Sie, weshalb?«
»Nein, das wusste man bei Monika eigentlich nie. Irgendwann hatte sie jeweils genug von einem Mann, und dann machte sie konsequent Schluss. Das lag irgendwie in ihrem Charakter. Also, Monikas vorletzter Liebhaber war ein Kollege aus unserem Tennisclub, Mark Sutter. Ihn hat sie vor ungefähr einem halben Jahr sitzengelassen. Ein besonders heikler Fall, weil Mark verheiratet ist und zudem seine Gattin Claudia zu Eifersucht neigt.«
»Wusste sie denn davon?«
»Das kann ich nicht beurteilen. Claudia spielt nicht Tennis, ich habe sie nur wenige Male gesehen. Und vor Mark Sutter… Ja, da war die Affäre mit Stefan Weber, dem Vater eines Schülers von Monika.«
»Oh, auch das klingt brisant.«
»Ja, die beiden konnten es zwar lange Zeit geheim halten, aber irgendwann flog die Sache auf. Monika hat dann die Beziehung beendet, aber seitdem leben die Eltern Weber getrennt voneinander.«
»Damit kämen wir bereits zum viertletzten Liebhaber…«, bemerkte die Kommissarin und musste ein Lachen unterdrücken.
Patrizia hob ihre Hände, als ob sie sich entschuldigen müsste. »Nun, diese Beziehung liegt schon etwas länger zurück, mindestens zwei Jahre. Es betraf auch einen Lehrer am Gymnasium, Thomas Stahel. Dieser wechselte dann später an eine Mittelschule im Engadin, ich glaube, es war in Zuoz. Und vor Thomas, da war Monika eine Zeitlang mit Martin Frei, dem damaligen Turnlehrer, zusammen. Das ist aber bestimmt vier Jahre her. Leider hatte Martin später einen schweren Fahrradunfall und ist seither querschnittgelähmt.«
»Oh, wie schrecklich.«
»Ja, sehr tragisch«, erwiderte Patrizia. »Aber kommen Sie doch morgen Abend, ab achtzehn Uhr, zum Tennisclub. Mark Sutter wird bestimmt da sein, ebenso Melanie Haller, die zweite beste Freundin von Monika.«
Anna Auer stand auf. »Das mache ich gerne und bedanke mich sehr für die Auskünfte.«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, was dahinter stecken könnte«, sagte Peter Sarasin, nachdem die Kommissarin gegangen war, und nahm einen Schluck aus seinem Whisky-Glas.
Patrizia Staehelin rückte auf dem Sofa etwas näher zu ihm und legte einen Arm um seine Schultern. »Meine beste Freundin tot! Ach, Monika…« Patrizias Tränen tropften auf Peters Hemd. »Sicher, einige Leute waren neidisch auf sie, weil sie einfach überall Erfolg hatte, ihr alles in den Schoss fiel, ihr die Männer nachliefen… Aber ein Mord? Ich kann es nicht begreifen!«
Patrizia fuhr sich nervös durch die Haare. »Oder hängt das doch mit dieser alten Geschichte zusammen? Ich weiss, mein Liebling, es ärgert dich, daran erinnert zu werden, aber es ist nun mal passiert und hat viele negative Gefühle hinterlassen.«
Patrizia drückte Peter einen Kuss auf den Mund. Dieser erhob sich, machte einige Schritte im Zimmer auf und ab und setzte sich dann wieder.
»Die alte Geschichte… Ich selber war ja damals zu jung, um alles zu begreifen. Und es ist doch mehr als fünfzehn Jahre her, warum sollte denn gerade jetzt…?«
Patrizia seufzte tief. »Ja, das war wohl nur so eine dumme Idee von mir. Eigentlich kann es ja nur ein Wahnsinniger gewesen sein, der sich im Wald ein zufälliges Opfer für seine Aggressionen oder seine Lust ausgesucht hat.«
Peter nickte. »Ja, das muss die Lösung sein. Wenn nur die Polizei den Übeltäter bald findet!«
Patrizia erhob sich. »Du entschuldigst mich, Peter. Ich muss unbedingt noch Melanie Haller anrufen. Vielleicht weiss sie noch gar nichts von Monikas Tod?«
Pünktlich um siebzehn Uhr waren Anna Auer und Lukas Lauber zum Tagesrapport bei ihrer Chefin, Silvia Stauber, erschienen.
»Ihr musstest aber früh ausrücken heute Morgen«, lächelte Silvia die beiden an. »Ich selber kam erst gegen neun ins Büro und erfuhr dann von Lukas, was passiert war. Eine furchtbare Sache! Und, wie weit seid ihr? Schauen wir zuerst die technischen Resultate an.«
Lukas blickte auf seinen Notizblock. »Nun, die Berichte des Kriminaltechnikers und des Rechtsmediziners habe ich bereits erhalten, der Autopsie-Bericht ist allerdings noch provisorisch. Monika Sarasin wurde gestern zwischen achtzehn und zwanzig Uhr in einem unwegsamen Dickicht in den Langen Erlen erstochen. Sie wurde zunächst durch Schläge auf den Kopf zu Fall gebracht und dann mit vier Messerstichen von vorne getötet. Es gibt Anzeichen, die auf eine Vergewaltigung hindeuten. Druckstellen am Rücken, am Gesäss und im Schambereich. Diverse Textilfasern sowie Hautpartikel wurden sichergestellt. Jedoch keine Spermaspuren, keine Fingerabdrücke, keine Tatwaffe.«
Silvia Stauber nickte nachdenklich. »Vergewaltigung also möglich. Vor oder nach dem Tod?«
»Niklaus Zehnder ist sich nicht hundertprozentig sicher. Er meint aber, wenn überhaupt, dann eher erst nach dem Tod.«
Silvia Stauber blickte Lukas an. »Wir werden also Speichelproben aller Verdächtigen für die genetischen Fingerabdrücke beschaffen müssen, um sie mit den gefundenen Hautpartikeln abzugleichen. Mit den Textilfasern können wir wohl nicht viel herausbringen. Es sei denn, der Täter wäre so ungeschickt gewesen, nicht alle seine Kleider zu entsorgen… Und jetzt zu dir, Anna. Sind schon Verdächtige in Sicht?«
Anna seufzte tief. »Leider nichts Konkretes. Immerhin habe ich heute mit mehreren Personen aus dem Umfeld des Opfers gesprochen und kann mir schon ein ungefähres Bild der Verstorbenen machen.«
Dann reichte sie die Fotografie herum.
»Oh, was für eine Schönheit«, rutschte es Lukas heraus.
»Also«, fuhr Anna fort, »Monika Sarasin, fünfunddreissig, Gymnasiallehrerin, lebte allein in ihrer grossen Wohnung in Riehen, wenige hundert Meter vom Ort des Verbrechens entfernt. Sie hatte zwei Brüder, und auch ihre Eltern leben noch. Patrizia Staehelin, die Partnerin von Monikas jüngerem Bruder Peter, war zugleich Monikas beste Freundin. Offenbar lebte Monika ziemlich isoliert von ihrer Familie. Einen wirklichen Grund dafür habe ich noch nicht ermitteln können. Ihre wichtigsten Lebensbereiche umfassten ihre Arbeit in der Schule und ihre Aktivitäten im Tennisclub. Das Auffälligste an Monikas Lebenswandel waren ihre häufig wechselnden Liebhaber, und die Tatsache, dass der Abbruch der jeweiligen Beziehungen immer von ihr aus ging. Das heisst, Kränkung und Eifersucht von sitzengelassenen Liebhabern könnten durchaus ein Motiv für den Mord darstellen. Patrizia Staehelin konnte mir fünf vergangene Liebhaber von Monika nennen. Drei davon werden wir uns morgen vorknöpfen. Den viertletzten und den fünftletzten, beide damals Lehrer am Gymnasium, können wir bereits ausschliessen. Der eine hat nachweislich seit einer Woche das Engadin nicht verlassen, und der andere sitzt, seit einem Unfall, querschnittgelähmt im Rollstuhl.«
»Gute Arbeit, vielen Dank«, lobte Silvia ihre Untergebenen, »auf diesem Weg kommen wir bestimmt bald weiter. Dringend sind jetzt die Befragungen bei den Nachbarn, in diesem Tennisclub und im Lehrerkollegium. Auch müssen wir von allen potentiell Verdächtigen die Speichelproben beschaffen. Ebenso dringend ist die Durchsuchung von Monika Sarasins Wohnung. Ich hoffe doch sehr, dass wir dort einen Hinweis finden. Haben wir eigentlich einen Schlüssel?«
»Ja«,