»Hier, das haben wir in ihrer Hüfttasche gefunden.«
Lukas untersuchte den Inhalt. »Sehr gut, die Identität der Toten ist damit geklärt. Ein Personalausweis und ein Ausweis für Lehrpersonen, beide mit Foto. Monika Sarasin, Lehrerin am Gymnasium am Münsterplatz. Aber kein Hinweis auf eine Adresse oder auf Angehörige.«
»Eine ermordete Gymnasiallehrerin, wie ungewöhnlich«, murmelte Anna Auer erstaunt.
Niklaus Zehnder untersuchte die Tote behutsam und gründlich. Gespannt schauten Anna und Lukas zu.
»Und?«, traute sich Anna nach einer Weile zu fragen.
Der Rechtsmediziner schien sie nicht zu hören und machte weiter. Schliesslich erhob er sich mühsam. Zehnder war um die sechzig und schleppte einen ansehnlichen Kugelbauch mit sich herum.
»Ja, eine böse Geschichte«, sagte er mit säuerlicher Miene, »es handelt sich eindeutig um ein Tötungsdelikt. Die Frau wurde von vorne mit einem Messer erstochen. Die grosse Beule am Kopf deutet darauf hin, dass sie wohl zuerst mit einem harten Gegenstand niedergeschlagen wurde. Sie dürfte seit rund zwölf Stunden tot sein, wurde also gestern am frühen Abend umgebracht.«
Lukas schaute sich um. »Soweit ich die nähere Umgebung beurteile, wurde sie wahrscheinlich hier an diesem Ort getötet und nicht etwa erst nach ihrem Tod hierher gebracht.«
»Das sehe ich auch so«, stimmte Zehnder zu, »von mir aus können wir die Leiche abholen lassen.«
»Pathologie, nehme ich an?«, fragte Anna.
Der Rechtsmediziner nickte nur, und Anna zückte ihr Handy, um den Leichenwagen aufzubieten.
»Wer von uns bleibt solange hier?«, fragte Lukas.
Anna reagierte sofort. »Du, schlage ich vor. Dann fahre ich zunächst zu diesem Gymnasium. Dort erfahre ich bestimmt auch etwas über die Angehörigen der Verstorbenen.«
»Gut«, stimmte Lukas zu, »wir treffen uns dann später im Präsidium, um das weitere Vorgehen zu besprechen.«
Anna Auer betrat den Schulhof des Gymnasiums am Münsterplatz. Es war jetzt zehn vor neun, und der Hof voll von Schülerinnen und Schülern, die in der ersten Pause des Schultages die letzten Neuigkeiten austauschten. Die Polizistin in Uniform fühlte sich unwohl, hatte das Gefühl, sie werde von allen Seiten angestarrt und als Fremdkörper betrachtet. Durch das weit offen stehende Tor betrat sie das Hauptgebäude, folgte den mit Rektorat beschrifteten Wegweisern und traf auf eine kleine, blonde Frau in dunkelblauem Hosenanzug.
»Guten Tag. Ich bin Anna Auer, Kriminalpolizei Basel-Stadt.«
Laura Waser starrte bestürzt auf den Polizeiausweis. »Oh je, oh je! Hat wieder einmal ein Schüler etwas Gröberes ausgefressen?«
Die Polizistin schüttelte den Kopf. »Leider ist es schlimmer. Eine der Lehrerinnen ist gestorben. Es handelt sich um Monika Sarasin.«
Laura Waser stiess einen spitzen Schrei aus. »Nein! Das darf doch nicht wahr sein!«
Sie drehte sich abrupt um und rannte, so schnell es ihre hohen Absätze zuliessen, den Flur hinunter.
»Annina, Annina!«, rief sie und riss die Tür zum Büro ihrer Chefin auf.
Die Rektorin wandte ihren Kopf. »Nicht so stürmisch, Laura! Was ist denn los?«
Laura verwarf die Hände und schrie: »Monika Sarasin ist tot! Hörst du, tot!«
»Jetzt rede nicht so dummes Zeug, meine…«
Sie verstummte augenblicklich, als sie die Polizistin im Türrahmen bemerkte, erhob sich und streckte ihr die Hand entgegen.
»Frau Doktor Annina Burckhardt, Rektorin des Gymnasiums am Münsterplatz«, stellte sie sich ganz förmlich vor.
»Anna Auer, Kriminalpolizei. Ja, leider ist es wahr. Wir haben Monika Sarasin vor einer Stunde tot im Wald bei den Langen Erlen gefunden.«
»Was, in den Langen Erlen… dort drüben wohnt sie doch…«, murmelte Laura Waser.
»Am besten lasse ich wohl die ganze Schule für heute schliessen«, sagte die Rektorin nüchtern. »Kann ich das Lehrpersonal auch nach Hause schicken oder möchten Sie noch Befragungen machen?«
Die Polizistin schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke, das kann warten.«
Annina Burckhardt blickte ihre Assistentin an. »Laura, kannst du das übernehmen, die Leute heimzuschicken?«
»Ja, ja, sicher, sofort…«, nuschelte diese und verliess eilig den Raum.
Annina Burckhardt schloss die Tür und wandte sich wieder der Polizistin zu. »Und jetzt haben wir kurz Zeit, miteinander zu reden. Bitte, nehmen Sie hier an unserem Salontisch Platz. Woran ist denn Monika Sarasin gestorben? War es ein Unfall?«
Wie scheinbar emotionslos und geschäftsmässig doch diese Frau den Tod einer ihrer Lehrerinnen aufnimmt, dachte Anna, so etwas habe ich noch nie erlebt.
»Frau Rektorin, es tut mir wahnsinnig leid, aber es handelt sich um ein Tötungsdelikt.«
»Ein… Oh je…« Jetzt machte sich doch Betroffenheit auf dem Gesicht der Frau breit.
»Ja, Monika Sarasin wurde erstochen. Wir haben bei ihr den Ausweis für Lehrkräfte gefunden, so wussten wir, wie sie heisst und wo sie arbeitet, und ich bin deshalb gleich als Erstes hier ins Gymnasium gekommen. Aber natürlich möchten wir sofort ihre Angehörigen informieren. Können Sie uns da weiterhelfen?«
Annina Burckhardt nickte zerstreut, sie schien sich zuerst wieder sammeln zu müssen.
»Wissen Sie, Monika Sarasin hat seit acht Jahren an unserem Gymnasium Geschichte und Geografie unterrichtet. Sie wohnte allein in Riehen, nahe dem Wald, wo das… Unglück passiert ist. Angehörige? Die Adressen kann ich Ihnen nicht geben, aber die werden Sie problemlos herausfinden. Monika hatte zwei Brüder, Sebastian und Peter, und auch ihre Eltern leben noch. Wenn ich mich richtig erinnere, lebt der ältere Bruder immer noch in der Familienvilla der Sarasins im Gellert.«
Oh, dachte Anna, Familienvilla im Gellert, das tönt nicht schlecht. Aber schliesslich sind die Sarasins ein uraltes Basler Patriziergeschlecht. Da wäre alles andere als eine Familienvilla eine Überraschung gewesen.
»Und sonst? Wissen Sie etwas über ihr Privatleben? Hatte sie einen Partner?«
Die Rektorin seufzte, und es war offensichtlich, dass die Befragung sie bereits zu nerven begann.
»Wissen Sie, wir mischen uns nicht in das Privatleben unserer Lehrkräfte ein, solange sie ihre berufliche Aufgabe korrekt wahrnehmen. Was ich weiss, ist, dass Monika im Tennisclub Smash Basel sehr aktiv war. Sie wohnte allein, hatte aber, gelinde gesagt, einen ziemlichen Verschleiss an Männern… Momentan war sie aber wieder einmal Single. Aber fragen Sie ruhig noch bei den Kolleginnen und Kollegen aus dem Lehrkörper nach.«
»Das werde ich gerne tun, und ich danke Ihnen sehr für die Auskünfte«, sagte Anna kühl und verabschiedete sich rasch.
Sie war froh, wieder draussen zu sein. Diese merkwürdige Atmosphäre im Rektoratsbüro hatte sie geradezu schockiert. Was war der Grund, dass die Rektorin die Nachricht vom Mord an einer Lehrerin mit so wenig Anteilnahme empfing? Hatte sie etwa schon davon gewusst? Oder war ihr Charakter einfach so gestrickt? Eines war klar: Mit dieser Frau würde sie sich nochmals befassen müssen.
Die Schülerinnen und Schüler hatte man, ohne ihnen Genaueres mitzuteilen, nach Hause geschickt. Das Lehrerkollegium hingegen war von Laura Waser in die Aula beordert worden, wo ihnen Annina Burckhardt die Nachricht von Monika Sarasins gewaltsamem Tod überbrachte. Alle standen unter Schock. Niemand konnte wirklich glauben, was passiert war, es mutete einfach zu verrückt an. Monika, diese fröhliche, beliebte Kollegin, aus dem Nichts heraus brutal ermordet, das konnte doch einfach nicht wahr sein!
Christa