Monikas Reigen. Urs W. Käser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Urs W. Käser
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783967525823
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Angriff, die von der Uferpromenade zur Wettsteinbrücke hinaufführte. Die ersten Absätze stieg sie mit Elan und viel zu schnell hoch, so dass sie schwitzend und keuchend stehen bleiben musste, noch ehe sie die Hälfte des Aufstiegs geschafft hatte. Ich muss unbedingt wieder Sport treiben, um meine Kondition zu verbessern, sagte sie sich. Aber zunächst muss ich jetzt meinen Einstand am Gymnasium hinter mich bringen!

      Den oberen Teil der Treppe bewältigte sie etwas langsamer und ohne weitere Pause, überquerte dann den Rhein auf der Wettsteinbrücke, bog nach rechts in die Rittergasse ein, erreichte nach knapp zehn Minuten den Münsterplatz und betrat das Gymnasium durch den Haupteingang, der sich direkt gegenüber der Münsterkirche befand. Im grossen Innenhof blieb sie stehen, schaute sich um und fühlte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Ihr erster Arbeitstag am Gymnasium am Münsterplatz! Hier sollte sie also fortan Deutsch und Englisch unterrichten. In diesen altehrwürdigen Gebäuden, in denen seit dem sechzehnten Jahrhundert Schüler auf die Universität vorbereitet wurden, in denen schon Friedrich Nietzsche und Jacob Burckhardt unterrichtet hatten, wo Arnold Böcklin und Carl Gustav Jung zur Schule gegangen waren!

      Abrupt wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als ihr eine kleine, blonde Frau mit sympathischem Lächeln entgegenkam und ihr die Hand zum Gruss bot.

      »Frau Vonlanthen? Willkommen an unserer Schule! Ich bin Laura Waser, Rektoratsassistentin. Die Direktorin hat mich beauftragt, Sie in Empfang zu nehmen. Ich werde Ihnen zuerst in meinem Büro eine allgemeine Einführung in den Schulalltag geben, damit Sie sich schon am ersten Tag einigermassen zurechtfinden. Sie wissen schon, Schlüssel, Kopierer, Bibliothek, Kaffeemaschine, Schulsoftware, internes Netzwerk und so weiter. Aber keine Angst, ich helfe Ihnen auch später jederzeit gerne. Um neun erwartet Sie dann Frau Rektorin Annina Burckhardt zu einem kurzen Gespräch, und um zehn Uhr fünfzehn beginnt Ihre erste Lektion in der Klasse 4c.«

      Christa spürte ihre Knie weich werden und ihr Herz gegen die Brust hämmern. Ihre erste Lektion an einem Gymnasium seit zweiundzwanzig Jahren!

      »Vielen Dank, Frau Waser, da ist sehr nett von Ihnen.«

      »Übrigens sind wir hier im Lehrerkollegium alle per Du, also ich bin Laura.«

      »Freut mich, ich heisse Christa.«

      Die beiden Frauen drückten sich nochmals die Hand.

      Christa Vonlanthen war jetzt auf dem Höhepunkt ihrer Nervosität. Das kurze Gespräch mit der Rektorin war zwar eine reine Formalität gewesen, doch jetzt stand ihr die Feuertaufe in der Klasse 4c bevor. Sie hatte eine Namensliste der zwanzig Schülerinnen und Schüler bekommen, aber was sagte die schon aus? Die jungen Leute standen zwei Jahre vor der Matura, sie hatten alle schon ihre eigene Persönlichkeit ausgebildet. Würden sie kooperieren oder sich verweigern, vielleicht gar rebellieren? Sie versuchte, die negativen Gefühle zu verscheuchen, indem sie ihre Notizen für die zwei Lektionen in Deutsch und Englisch nochmals durchging. Gedanken an ihre drei Jahre als Lehrerin am Gymnasium in Thun kamen ihr hoch. Das war doch gar nicht so schwierig gewesen damals! Frisch von der Universität und mit einer grossen Portion Optimismus hatte sie ihre erste Stelle im Berner Oberland angetreten. Kaum zehn Jahre älter als ihre Schüler, hatte sie sich schnell eingelebt und Spass am Unterrichten gefunden. Vor der Geburt ihres ersten Kindes hatte sie dann, nicht zuletzt auf Drängen ihres Mannes, den Schuldienst gekündigt. Und später hatte sie den geplanten Wiedereinstieg ins Gymnasium immer wieder hinausgeschoben und schliesslich ganz aufgegeben. Das war ein Fehler gewesen, wurde ihr jetzt einmal mehr bewusst. Sie spürte ihre Nervosität wieder wachsen. Jetzt war sie keine junge, unbekümmerte Lehrerin mehr, sondern eine fünfzigjährige Frau, die Angst davor hatte, wieder vor eine Klasse zu treten… Sie ging nochmals auf die Toilette, stieg dann in die zweite Etage hoch und drückte mutig die Türklinke zum Klassenzimmer der 4c.

      Ziemlich erschöpft, aber unendlich erleichtert wünschte Christa Vonlanthen um elf Uhr fünfzig ihrer Klasse einen guten Nachmittag. Ein erfreulicher Anfang war geschafft! Die Jugendlichen hatten sie wohlwollend empfangen, hatten sich, wenn auch noch etwas zögerlich, am Unterricht beteiligt, und niemand hatte auch nur die geringste Tendenz zu Widerstand erkennen lassen. Christa begab sich zum Lehrerzimmer im Erdgeschoss. Vor der Tür kam ihr eine jüngere, modisch gekleidete Frau entgegen und streckte ihr lächelnd die Hand hin.

      »Die neue Kollegin Vonlanthen, nehme ich an? Ich bin Monika Sarasin und unterrichte Geschichte und Geografie. Willkommen, Christa, an unserer altehrwürdigen Schule.«

      Christa drückte die warme Hand. »Freut mich, dich kennenzulernen, Monika. Ich habe soeben meinen Einstand in der 4c gegeben.«

      Monika lachte. »Oh, das weiss ich schon! Ich versichere dir, mit der 4c wirst du keine Probleme haben. Eine flotte Klasse, die ich sehr gut kenne, weil ich dort Klassenlehrerin bin. Ich gebe also nicht nur meine Lektionen, sondern bin für alle schulischen, manchmal sogar für ausserschulische, Belange der jungen Leute zuständig. Eine Art von Coach für die Schulzeit eben. Als Klassenlehrerin lernst du die Jugendlichen im Lauf der Jahre eben ziemlich gut kennen. Ja, die 4c macht wirklich Freude. Übrigens, hast du in der Mittagspause schon etwas vor?«

      »Ehm, nein…«

      »Gehen wir doch zusammen ins Rümelin, da kann man gemütlich draussen im Schatten sitzen.«

      »Gerne.«

      Christa atmete auf. Schon am ersten Morgen so eine nette Bekanntschaft!

      Die beiden Frauen spazierten nebeneinander den steilen Schlüsselberg hinunter, überquerten die Freie Strasse und bogen wenige Schritte weiter in eine enge, leicht ansteigende Gasse ein, die zum Rümelinsplatz führte, einem kleineren, dreieckigen Platz mitten in der Basler Altstadt.

      »Wirklich ein schöner, ruhiger Ort hier«, lobte Christa, als sie sich an einen kleinen Tisch gesetzt und das Mittagsmenu bestellt hatten. »Ich kenne ja Basel bisher sozusagen nur vom Hörensagen.«

      »Ich war sicher, es würde dir hier gefallen«, erwiderte Monika. »Du kommst aus Thun, habe ich im internen Netz gelesen. Was hat dich denn aus dem Berner Oberland nach Basel verschlagen?«

      »Eigentlich der pure Zufall. Mein Mann und ich haben uns im vergangenen Frühling getrennt, und danach bekam ich so richtig Lust auf einen Neuanfang als Lehrerin. Unsere beiden Kinder studieren bereits in Bern und haben ihre eigene Bude, deshalb fühlte ich mich ganz frei, irgendwo eine Stelle zu suchen.«

      Monika blickte erstaunt auf. »Oh, du hast schon erwachsene Kinder? Du siehst aber noch jung aus!«

      »Danke für die Blumen. Man macht eben, was man kann, auch noch mit fünfzig.«

      »Und, wie fühlt sich das an, dein Neuanfang?«

      »Ehrlich gesagt, war ich heute Morgen sehr nervös. Stell dir vor, meine ersten Lektionen nach einer Pause von zweiundzwanzig Jahren, und dann noch an einer so traditionsreichen Schule!«

      Monika lächelte. »Ja, da wäre ich auch nervös gewesen. Aber mache dir bloss nicht zu viele Gedanken. Unsere Schule ist letztlich auch nur ein Gymnasium wie jedes andere.«

      Die Kellnerin brachte den bestellten Lunch, und eine Weile vertieften sich die beiden Frauen schweigend ins Essen. Christa betrachtete zwischendurch die Erscheinung ihrer neuen Kollegin. Ganz bestimmt wirkt sie unwiderstehlich auf Männer, dachte sie, so perfekt gestylt, wie sie daherkommt: Dieses ovale, völlig symmetrische Gesicht, die grossen, grünlichen, stark geschminkten Augen, die gerade, schmale, leicht glänzende Nase, die vollen, schön geschwungenen, dunkelrot angemalten Lippen, das kleine, abgerundete Kinn, die blonden, leicht gewellt auf die Schultern fallenden Haare. Und wie bezaubernd sie lächeln kann! Auch ihre Kleidung ist perfekt gewählt: Pinkfarbene Bluse, dunkelroter Jupe und ebenso rote Sandalen mit gewagt hohen Absätzen. Auch ihre Hände sind sehr gepflegt, der dunkelrote Nagellack sorgfältig aufgetragen. Ihr Alter? Wohl eher näher bei dreissig als bei vierzig.

      Christa hatte aufgegessen, sie legte ihre Gabel nieder und blickte ihr Gegenüber an.

      »Darf ich dir ein Kompliment machen, Monika? Dein Outfit gefällt mir sehr gut. Es passt alles zusammen und steht dir ausgezeichnet. Und natürlich hast du auch die perfekte Figur dazu.«

      »Nun