Pädagogische Beziehungen für nachhaltiges Lernen. Natalie Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Natalie Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783170368873
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Lernen als Ziel schulischer Bildung

      1.1 Nachhaltiges Lernen und die gemäßigt konstruktivistische Perspektive

      Bereits im alten Rom wurde kritisiert, dass die Schulbildung eher lebensfern sei. »Non vitae sed scholae discimus« (Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir; Briefe an Lucilius 106, 12). So formulierte es Seneca im ersten Jahrhundert nach Christus als Kritik an den Philosophenschulen dieser Zeit (Bartels, 2006). Fast 2000 Jahre später findet sich eine ähnliche Kritik bei Gruber, Mandl und Renkl (2000). Schulisches und hochschulisches Lernen führe zu trägem Wissen, welches für die Lösung komplexer, alltagsnaher Probleme nicht zu gebrauchen sei. Es bestehe also eine Kluft zwischen Wissen und Handeln.

      Im Sprachgebrauch hat sich die Umkehrung von Senecas Satz »Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir« durchgesetzt und wird häufig ins Feld geführt, wenn sich Schülerinnen und Schüler über ihr Pensum beschweren, den Sinn des Lernens in Frage stellen, negative Emotionen mit dem Lernen verbinden oder oberflächliche Lernstrategien anwenden, die nur darauf ausgelegt sind, den Lernstoff bei der nächsten Klassenarbeit abrufen zu können (sogenanntes Bulimie-Lernen). Dahinter steckt der Wunsch, die Schülerinnen und Schüler mögen das Gelernte dauerhaft behalten und anwenden können – kurz: Das Lernen soll nachhaltig sein.

      Nachhaltiges Lernen wird hier im Sinne des »Lernens für das Leben« verstanden (z. B. Schüßler, 2004). Im Gegensatz zu trägem Wissen soll das Gelernte …

      1. dauerhaft wirksam (gespeichert und abrufbar),

      2. über verschiedene Kontexte hinweg nutz- und transferierbar,

      3. lebensnah und zukunftsrelevant sein.

      Auch das angewendete Lernverhalten selbst soll nachhaltig wirksam sein. Der Erwerb nachhaltigen Wissens steht daher auch immer im Dienste des Erwerbs von weiteren Kompetenzen (Stadelmann, 2017). Nachhaltiges Lernen sollte also auch

      4. die Bereitschaft und Befähigung zu lebenslangem Lernen fördern.

      Nachhaltiges Lernen weist somit Bezüge zu verschiedenen lerntheoretischen psychologischen und pädagogischen Konzepten auf.

      Die Grundannahmen beruhen auf dem Informationsverarbeitungsansatz des Lernens und dem Mehrspeichermodell des Gedächtnisses. Nachhaltig ist Wissen dann, wenn es (1) den Langzeitspeicher erreicht und (2) in vielfältigen Situationen abrufbar ist. Aus der Forschung in diesem Kontext ist auch bekannt, dass der Aufbau von Wissen sich kumuliert, d. h., dass der Wissenserwerb bei vorhandenem Vorwissen erleichtert wird (lebenslanges Lernen). Gleichzeitig wird hier die Bedeutung von Lernstrategien und Motivation für den Wissensaufbau betont (Hasselhorn & Gold, 2017), diese Komponenten sind ebenfalls Voraussetzungen des lebenslangen Lernens (4).

      Hinsichtlich der zu lernenden zukunftsrelevanten und lebensnahen Inhalte (3) lassen sich Bezüge zum Literacy-Konzept herstellen, welches den Bildungsstandards der KMK sowie den internationalen Leistungsvergleichen in den PISA-Studien zugrunde liegt (Köller, 2018). Literacy (Grundbildung in Bezug auf verschiedene Domänen wie z. B. Lesen und Schreiben) beinhaltet Basisqualifikationen, die soziale und kulturelle Teilhabe sowie lebenslanges Lernen ermöglichen.

      Bei der Gestaltung von Lernumgebungen für nachhaltiges (fachbezogenes) Lernen gilt es also, die Förderung weiterer Kompetenzen mit einzuplanen. Didaktisch wird dabei eine konstruktivistische Perspektive auf das Lernen zugrunde gelegt (image Abb. 1.1).

Images

      Der Ausgangspunkt ist, dass Wissen individuell und sozial (gemeinsam mit anderen) (ko-)konstruiert und erweitert wird. Das Lernen erfolgt also einerseits selbstgesteuert, andererseits kooperativ. Wichtig ist, dass die Lernenden sich aktiv mit dem Gegenstand auseinandersetzen. Dabei werden Ansätze situierten Lernens zugrunde gelegt. Lernen findet demnach in konkreten Situationen im sozialen Raum statt und ist an bestimmte Verwendungskontexte gebunden (Reinmann & Mandl, 2006). Daher sollten Aufgabenstellungen möglichst alltagsnah erfolgen. Lernende sollen ihr Wissen anhand authentischer Probleme konstruieren. Die Wissenskonstruktionen werden mit situationsspezifischen Eindrücken und Gegebenheiten verknüpft, daher ist es wichtig, Transfer sowie (durch Austausch und Diskussion) die Auseinandersetzung mit multiplen Perspektiven gezielt einzuplanen. Die Lehrperson begleitet bei der Konstruktion von Wissen und hebt immer wieder Verbindungen von Wissen und Handeln hervor.

      Die kognitive Meisterlehre als Methode situierten Lernens

      Eine Methode situierten Lernens, die einen Kompromiss zwischen Selbst- und Fremdsteuerung (durch die Lehrperson) darstellt, ist die sogenannte kognitive Meisterlehre, in der Schülerinnen und Schüler als Novizen und die Lehrpersonen als Expertinnen bzw. Experten angesehen werden. Anhand von alltagsnahen Problemen modelliert die Lehrperson den Weg zur Lösung und die Lernenden ahmen dies zunächst nach. Selbstständiges Problemlösen wird durch schrittweisen Rückzug der Lehrenden aus dem Geschehen ermöglicht. Dieses Prinzip wird auch beim reziproken Lehren genutzt, bei dem die Schülerinnen und Schüler abwechselnd die Lehrendenrolle übernehmen und kooperativ lernen. Diese Methode ist nach den Daten aus Hatties (2009) Synthese von Metaanalysen unter den Top Ten der wirksamen Lehrmethoden (Hasselhorn & Gold, 2017).

      Diese Art des Lehrens erfordert einerseits die Abgabe von Verantwortung für den Lernprozess an die Lernenden, andererseits eine gute Strukturierung durch die Lehrperson im Sinne einer »Balance zwischen Instruktion und Konstruktion« (Reinmann & Mandl, 2006, S. 639). Gerade für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler ist ein hoher Strukturierungs- und Lenkungsgrad wichtig für positive Effekte konstruktivistischer Lernumgebungen. Daher wird in Bezug auf die Vermeidung von trägem Wissen von einer »gemäßigt konstruktivistischen Position« gesprochen (ebd., S. 637). Neben den Grundprinzipien Aktivität, Selbststeuerung, Konstruktion, Situiertheit und sozialer Bezug wird die Rolle von Emotionen und Motivation für das nachhaltige Lernen betont. Fähigkeiten zum selbstgesteuerten und kooperativen Lernen sowie Motivation und positive Emotionen beim Lernen sind somit gleichzeitig Voraussetzung und Ziel nachhaltigen Lernens (image Kap. 1.3).

      Nachhaltiges Lernen sollte Schülerinnen und Schüler also optimal auf das Leben nach der Schule vorbereiten und umfasst vielfältige Inhalte. Im Folgenden soll die Perspektive auf die zu lernenden Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten erweitert und mit dem Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule sowie den Anforderungen an Ausbildungs- und Studierfähigkeit in Verbindung gebracht werden.

      Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule, der in den Schulgesetzen der Bundesländer verankert ist, ist in allen Ländern auf soziale und demokratische Werte sowie die Förderung eigenständigen Handelns ausgerichtet. Diese Ziele, die außerhalb der Vermittlung von Fachwissen liegen, werden von Eltern und Lehrpersonen übereinstimmend als wichtig, jedoch in der Schule als wenig umgesetzt, angesehen (Drahmann et al., 2018). Unterscheidet man, wie die Schulqualitätsforschung, zwischen fachspezifischen und bereichsübergreifenden Wirkungen von Schule, so erfolgt nach Ansicht der Befragten in der Schule eine Konzentration auf die fachliche Förderung. Für Lehrpersonen stehen bei der Unterrichtsplanung häufig die in einem Schul(halb)jahr zu vermittelnden fachlichen Kompetenzen und curricularen Inhalte im Vordergrund. Dabei kann es allerdings nicht das Ziel sein, träges und nur kurzfristig abrufbares Wissen zu vermitteln (image Kap. 1.1).

      So sieht z. B. das Hessische Kultusministerium (HKM) insbesondere die Vermittlung von Selbstständigkeit und Schlüsselqualifikationen als wichtige Qualitätsmerkmale von Schule