Dann gingen die beiden zum See und der Meister wies seinen Schüler an, dieselbe Menge Salz in den See zu werfen und wieder vom Wasser zu trinken. „Wie schmeckt das?“, fragte er erneut.
„Frisch“, sagte der Schüler. „Frisch, wie immer…“
„Und schmeckst du das Salz?“, bohrte der Meister nach.
„Nein …“ Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht“, sagte er und deutete auf das Wasser. „Der See ist größer als das Glas.“
Der Meister nickte. „Genau. Der Schmerz des Lebens ist wie pures Salz, nicht mehr und nicht weniger. Die Stärke dieses Schmerzes bleibt immer dieselbe. Aber die Stärke der Bitternis, die wir schmecken, hängt von dem Gefäß ab, in das wir die Bitternis füllen. Wenn du Schmerzen hast, kannst du nur eines machen: Vergrößere dein Gespür für die Dinge. Hör auf, ein Glas zu sein. Werde zu einem See.“
Die Reise zum See
Und jetzt wird es ernst: Alle, die mein Manuskript bisher gelesen haben, prophezeiten mir, dass ich genau an dieser Stelle neunundneunzig Prozent meiner Leser verlieren würde. „Hier verjagst du deine Fans“, warnte erst kürzlich eine Bekannte. Warum? Weil es für den Geschmack des Schmerzerfahrenen zu unrealistisch, zu blumig, esoterisch und praxisfern werde. Das Thema Schmerz verlange nach Ernsthaftigkeit, es vertrage weder Polemik noch Augenwischerei und Scharlatanerie.
Und doch! Ich riskiere es. Ganz bewusst mute ich es Ihnen zu, noch einmal zur Schmerzparabel zurückzukehren.
Obwohl Zengeschichten mit geläufigen Denkmechanismen kaum interpretierbar sind und nur in der nonverbalen Tiefe ihrer Botschaft erfasst werden können, kommt in dem Meister-Schüler-Dialog ein sehr vernachlässigter Aspekt ins Spiel: Der Grad und die Weise, in der anhaltender Schmerz empfunden wird, hängen damit zusammen, in welchem Verhältnis sie zum Rest des „Mysteriums Körper“ stehen, zum endlos komplexen „System Mensch“.
Wie gestaltet sich die Empfindungswelt des Körpers? Ist der Körper „eng“, undurchlässig, verspannt? Ist er wie ein kleines begrenztes Gefäß, in dem Schmerz gefangen ist? In dem sich Schmerzempfinden „verdichtet“, gewissermaßen komprimiert? Oder kann er auch Weite und Raum bedeuten? Ein See sein? Ein großer Organismus, in dem sich Empfinden, einschließlich Schmerzwahrnehmung „weitet“, weil Bewusstheit von anderen Qualitäten gleichrangig besteht? Ginge es, dass aufgrund dessen das Gehirn als Chefdirigent des Orchesters Körper die Botschaft ändert, die er in die physischen Strukturen schickt?
Und umgekehrt: Wenn der Körper als feiner, differenzierter und daher als weiter empfunden wird, können dann Informationen aus seiner Peripherie auch Einfluss nehmen auf die Wahrnehmung von Schmerz? Und können sie denjenigen Teil beeinflussen, der Schmerz erzeugt, nämlich der eingespurte Mechanismus im Gehirn?
Schaffen es neuartige, weil durch Bewusstheit erfasste afferente Informationen dort, in der Chefzentrale des zentralen Nervensystems, langfristig für eine andere Arbeitsweise der Neuronen zu sorgen, sodass das Eldorado der Schmerzsignale neu gemixt wird, sich Gehirnsubstanz anders vernetzt, sich differenzierter verknüpft?
Und ganz persönlich gefragt:
1. Wie ist Ihre Beziehung zu dem „Gefäß“, das Ihr Körper ist?
2. Wie ist Ihr Verhältnis zu dem Bereich Ihres Körpers, der keine Schmerzen hat, sodass sich der Schmerz wie das Salz im See „verteilen“ kann?
3. Worauf schauen Sie, wenn Sie über Ihren Schmerz sprechen? Auf das Salz? Oder den See? Auf Ihre „Triggerpoints“? Oder auf die Spielräume, die Sie haben?
4. Trauen Sie sich zu, selbst Einfluss auf Schmerzverarbeitung zu nehmen, weil Sie der Experte im Schmerzgeschehen sind?
Hand aufs Herz: Wo gehen Sie los? Beim Glas? Oder beim See?
Glas oder See?
Beginnen wir sofort mit einer praktischen Übung. Verschieben Sie diese bitte keinesfalls auf später, machen Sie sie JETZT. Genau jetzt.
Ihre Eigenanamnese
Vielleicht haben Sie die vier Fragen soeben in Gedanken schon beantwortet. Wenn nicht, holen Sie es nach. Schreiben Sie Ihre Antworten kurz und bündig auf. Grübeln Sie nicht lange, selbst wenn Ihre Antwort ungewöhnlich klingt.
Und nun zum Kern: Lesen Sie sich Ihre Antworten laut und deutlich und so bewusst wie möglich vor. Lassen Sie sich dabei jedes einzelne Wort auf der Zunge zergehen. Danach begeben Sie sich in eine bequeme Position, sitzend, liegend oder stehend, schließen für sieben Atemzüge Ihre Augen und ruhen im Kontakt mit Ihrem Atem nach.
Mein Tipp: Heben Sie das Geschriebene bis zum Ende des Buches auf.
Standortbestimmung
Sobald ich mit Klienten zu arbeiten beginne, ist es das Wichtigste, zu wissen, wo wir starten, an welchem Ort wir losgehen. Das haben wir gerade gemacht. Da ich so viel Körperbewusstheit wie möglich aus Ihnen herauskitzeln möchte, animiere ich Sie außerdem dazu, die übliche Schmerzhierarchie zu verlassen und Ihr eigener Experte innerhalb Ihres Schmerzgeschehens zu sein. Ja, Sie lesen richtig. Verlassen Sie den Patientenstatus! Arbeiten Sie sich in den Chefsessel Ihrer Situation vor, sodass Sie als fühlender, reflektierender und wissender Mensch am Ruder Ihrer Schmerzgeschichte sitzen.
Ich ermutige Sie, sich in die Nabe des Geschehens zu begeben, genau in die Mitte hinein, medial, dorthin, wo jegliche Information zusammenläuft.
Tagebuch
Um diesen Prozess klarer zu gestalten, empfehle ich, ihn schriftlich zu dokumentieren. Das hat sich in meiner Arbeit mit Klienten bezahlt gemacht. Kaufen Sie sich ein Tagebuch und führen Sie es als einen Veränderungsdetektor. Falls Sie Ihr Tagebuch im Handy, im Tablet oder im Notebook führen, ist das ebenso in Ordnung. Wichtig ist, dass Sie es bei sich haben und Beobachtungen ad hoc und frisch aufschreiben können. Notieren Sie alles, was sich in Ihrer Wahrnehmung verändert, egal, ob es mit dem Schmerz offensichtlich in Verbindung steht. Warum? Weil jede Art veränderter Perzeption wichtig ist. Jede. Jede einzelne. Sie hat Gewicht, damit Sie die Indikatoren für neuronale Veränderung erkennen können, die im Zuge von Meditationspraxis passiert.
Wenn sich meine Klienten von mir verabschieden und ihren Weg anhand ihrer Notizen rückblickend verfolgen, können sie es oftmals kaum fassen, wie weit sie gegangen sind. O-Ton einer Klientin: „Es ist kaum zu glauben, wie mein Körper damals war.“ Eine andere Klientin beschrieb es wie das Ansehen eines Fotoalbums, in dem sie auf die alten Bilder schaut. „Der Schmerz ist wie Schnee von gestern“, sagte sie. „Schnee, der längst geschmolzen ist.“
Das Tagebuch dokumentiert aber nicht nur Ihre veränderten Wahrnehmungen, sondern es soll außerdem Ihre Ressourcensammlung sein. Sie können es wie ein Kochbuch führen, in dem Sie Rezepte archivieren, Tipps und Tricks sammeln, Zitate, Bilder oder persönliche Bemerkungen hineinpinnen, die Sie später nutzen. Dann greifen Sie auf das zurück, von dem Sie wissen, dass es Ihren aktuellen Bedarf erfüllt.
Ihr Spannungs-Schmerz-Score (SSS)
An dieser Stelle installieren wir einen Vergleichswert, nach dem ich Sie noch mehrere Male fragen werde.
1. Ihr Spannungsscore: Fühlen Sie den Grad der Anspannung Ihres Körpers und ordnen Sie ihn auf einer Skala von null bis einhundert Prozent ein. Während der Wert null einem völlig entspannten Dasein entspräche, bezöge sich ein Wert von einhundert Prozent auf Ihre maximalste Anspannung. Notieren Sie den Wert und versehen Sie ihn mit dem heutigen Datum.
2. Ihr Schmerzscore: Schätzen Sie den durchschnittlichen Grad Ihrer Schmerzen auf einer Skala von null bis einhundert Prozent ein. Der Wert null wäre gleichzusetzen mit Schmerzfreiheit, während sich einhundert Prozent auf durchgängige Schmerzen in Maximalstärke beziehen. Fügen Sie diesen Wert ebenfalls Ihren Aufzeichnungen hinzu.
Inneres Hilfsmittel Meditation
Und schon sind wir mittendrin im Prozess des Bewusstwerdens, in den Sphären von Innenschau und verfeinerter Perzeption. Wo auch immer Sie losgehen, Meditation ist im