Während von Dauerschmerzen Geplagte fast neidisch auf ihre Leidensgefährten schauen, denen ja immerhin schmerzfreie Intervalle vergönnt sind, sehen das die von Schüben Betroffenen oftmals anders. Ein von Migräneanfällen oder rheumatischen Entzündungsschmerzen Attackierter kann durchaus so geruchs-, geräusch- und berührungsempfindlich sein, dass ihn die Toilettenspülung in der Nachbarwohnung stört und er sich manchmal nicht einmal mehr sicher ist, ob er überhaupt noch leben will.
Schmerz konkret
Birgit
litt früher unter Migräneattacken und sagt: „Ich hab schon auf dem Dachsims gestanden, bis mich mein Mann da runtergeholt hat. Da wusste ich, dass ich etwas unternehmen muss …“
Ina
ist mit chronischer Polyarthritis diagnostiziert und erklärt: „Wenn ich im Schub bin, ist mir ganz egal, was man mir gibt. Ich nehme alles, damit ich nur durchatmen und mich wieder rühren kann.“
Eric
„Es mag sich gut anhören, dass ich am Tag relativ schmerzfrei bin und nur in der Nacht mein Ischias streikt. Aber tauschen möchte mit mir keiner, weil meine Nächte die Hölle sind.“
Bei schubartigen Schmerzen scheint sich das Gehirn auf bestimmte zeitlich-rhythmische Präferenzen einzupegeln – ein Phänomen, das für Betroffene wie Behandler oft im Dunkeln bleibt.
Schmerzpunkt I
WIE Schmerzsignale verarbeitet werden und als Schmerzempfinden in die persönliche Wahrnehmung eingehen, ist bei weitem kein einheitlicher Prozess, denn Schmerz ist nicht gleich Schmerz. Und das sollte nicht überraschen, da Gehirn nicht gleich Gehirn ist und Mensch nicht gleich Mensch. Zum Verständnis von Schmerz braucht es mehr, Individualität eben, von der jeder Schmerzgeplagte profitiert.
Individualität im Schmerzgeschehen
Diagnostik versus Empfinden
Aber genau das, die individuelle Herangehensweise, beschreibt die Tatsache, die unsere medizinische Diagnostik rasend schnell an ihre Grenzen treibt. Schmerz korreliert nämlich kaum mit dem ABC geläufiger Befunderhebung. Zwischen dem sichtbaren Befund, dem dargestellten Gewebeschaden im Röntgenbild, dem MRT oder Ultraschall und dem konkret empfundenen Schmerzgrad können durchaus Welten liegen. Beispiel: „Ihre Hüfte ist gesund, Herr Meier“, so der Orthopäde. Herr Meier sieht das anders: „Aber sie tut höllisch weh.“
Und das Gegenteil gibt es auch: „Na, da kommen Sie wohl, um eine Endoprothese im Knie nicht herum, Frau Obermeier-Möllemann, eine lehrbuchreife Arthrose dritten Grades“, sagt der Arzt. Frau Obermeier-Möllemann: „Was? Immer noch? Ich bin seit einem halben Jahr nahezu schmerzfrei, spiele wieder Tennis und fühle mich fit wie selten zuvor.“
Was die Diagnostik beschwört, muss also lange nicht dem Schmerzpegel entsprechen, den der Betroffene beschreibt. Ein klassisches Beispiel aus der Schmerzpraxis: Der Mensch, der zum „Knie in Zimmer 317“ gehört, kann durchaus sehr anders fühlen.
Diagnosen im Außen
Schauen wir einmal auf das Symptomfeld der Rückenschmerzen, das im Handumdrehen aufzeigt, wie weit strukturorientierte Diagnostik und tatsächliches Befinden auseinanderliegen können.
Nicht jeder Bandscheibenvorfall beispielsweise erzeugt Dauerschmerz. Geschätzt wird, dass bei etwa achtzig Prozent der Menschen die Bandscheiben im Laufe ihres Lebens aus ihrem Platz zwischen den Wirbelkörpern herausrutschen. Aber nur ein Bruchteil der Betroffenen merkt es und ein noch geringerer Prozentsatz entwickelt daraus ein rezidivierendes oder chronisches Lumbalsyndrom, also langfristigen Schmerz.
Hat sich dieser dann manifestiert, kann er sich wiederum auf ganz unterschiedliche Weise bemerkbar machen. Während der eine Schmerzgeplagte mit motorischen Ausfällen bis hin zu Lähmungen in den Beinmuskeln kämpft, klagt ein anderer über Sensibilitätsstörungen oder Wadenkrämpfe, und ein weiterer kämpft mit der Seele, weil ihm das schmerzende Kreuz die Stimmung vergällt.
Und denken wir nur an die häufig diagnostizierten Skoliosen, Seitverkrümmungen der Wirbelsäule, die oft als Verursacher von Kreuzschmerz gelten. Wenn aber jede Skoliose automatisch zu Schmerzen führen würde, hätten wir kaum noch schmerzfreie Menschen auf der Welt. Ich selbst habe eine, und dennoch weiß ich nicht, was Rückenschmerz ist. Und ich kenne Skoliotiker, denen der Rollstuhl in Aussicht gestellt wurde, doch sie bewegen sich flexibel, treiben Sport und sind von diesem weit entfernt. Andere hingegen können sich mit vergleichsweise weniger drastischem Geschehen im Rücken kaum rühren.
Schmerz konkret
Eleonore
kam mit einer Skoliose zur Welt, ihr Oberkörper war sichtbar deformiert. Als der Schmerz in der Pubertät fast unerträglich wurde, nahm Eleonore diesen in die eigene Hand und lernte Tai Qi. Die ersten Bewegungen waren die Hölle, ihr Schmerz heulte auf wie nie zuvor. Aber dann schlug er um. Eleonore erzählte mir davon etwa dreißig Jahre später. Sie hatte einen leicht deformierten Brustkorb, aber sie bewegte sich flüssig und zumeist schmerzfrei. Meditation gab sie einen festen Platz in ihrem Leben. Sie war eine selbstbewusste, schöne Frau.
Daniela
hatte ebenfalls sehr früh die Diagnose „Manifestierte Skoliose“ bekommen, war jedoch von einer sichtbaren Deformierung verschont geblieben. Die Röntgenbilder seien unauffällig, so die Ärzte, auf keinen Fall stünden sie in Relation zu Danielas Schmerz. Mitunter konnte sie, inzwischen vierzehn Jahre alt, nicht einmal aufstehen, und mit dem Mieder, das ihr zur Stabilisierung verordnet worden war, fühlte sie sich noch miserabler als zuvor. Mitunter verbrachte sie den Tag im Bett und weinte. Als ich sie traf, war ihr Hauptproblem nicht der Schmerz als solcher, sondern der Beweisdruck, kein Simulant zu sein. Weder Eltern, Lehrer noch Freunde glaubten ihr, wie sehr sie litt. Der Orthopäde riet zur Psychoanalyse. Sie solle nicht übertreiben, war der allgemeine Kommentar.
Es überrascht deshalb nicht, dass Wissenschaftler an einer Methode tüfteln, wie der individuelle Schmerzgrad messtechnisch erfassbar ist. Man sucht nach einem objektiven Schmerzdetektor, einer Art Schmerzscanner, um Schmerz ohne strukturell nachweisbare Zuordnung zu objektivieren und messbare Veränderungen im Schmerzverlauf sichtbar zu machen. Schmerzforscher hoffen, so das subjektive Schmerzempfinden besser zu verstehen.
Schmerz als degenerative Erscheinung
Ab einem gewissen Alter seien Schmerzen normal, so die Überzeugung vieler meiner Klienten. Und tatsächlich hält sich die Meinung hartnäckig, dass Schmerz ein normaler Ausdruck des Alterns sei. Degenerativ sagt man auch oder altersbedingt. Damit ist gemeint, dass sich körperliche Strukturen verschleißen, gemäß der Idee, dass sich das, was man lange nutzt, abnutzt und automatisch Schaden nimmt. Eine solche mechanistische Betrachtungsweise des Körpers akzeptiert auch den Schluss, dass unser anatomischer Aufbau nach längerem Gebrauch seine Funktion einbüßt und das menschliche Gehirn an Flexibilität verliert. Und das wiederum assoziieren wir häufig damit, dass unser Körper im Alter weniger fähig zum Heilen ist, therapeutische Intervention weniger Wirkung zeigt und Schmerzreduktion einem Wunder gleicht. Von einer bestimmten Jahreszahl an geht es mit unserer Vitalität bergab, so die allgemein akzeptierte Idee.
Glücklicherweise ermöglicht die digitale Technik, mittels funktionellem MRT tiefer in die Furchen und Winkel des Gehirns zu schauen und damit auch in das alternde Oberstübchen hinein. Fakt ist: Das menschliche Gehirn liebt es, zu lernen. Selbst bis ins hohe Alter kann es eine flexible Informationsrückkopplung zu den Organen und Körperarealen aufrechterhalten, einschließlich der Option – man staune! – diese zu revidieren und sogar noch zu verbessern. Von einem zwangsläufigen Rückgang der Neuronen, dem der alternde Mensch automatisch ausgesetzt sein soll, fehlt jede Spur.