Aktuellen Erhebungen zufolge bleibt außerdem zu bedenken, dass chronischer Schmerz immer häufiger auch bei jungen Menschen unterhalb der Dreißig auftritt und die Zahl betroffener Teenager rapide in die Höhe schießt. Der Schmerzmittelkonsum bei Jugendlichen im Alter zwischen elf und sechzehn Jahren hat sich in den letzten drei Jahrzehnten verdoppelt und auch die noch jüngeren Schulkinder holen beängstigend schnell auf. Von Verschleiß kann da noch keine Rede sein.
Schmerz, das Erbe
Wie stark und unantastbar der Einfluss unseres genetischen Erbes auf die individuelle Schmerzverarbeitung ist, steht ebenfalls im Mittelpunkt der Diskussion. Tatsächlich zeigt die Statistik, dass sich chronischer Schmerz familiär häuft. Und das bringt uns in gewisser Weise an das Ende unseres Lateins, denn die Gene scheinen eine Art internes Schicksal zu sein, dem der Mensch nun einmal ausgeliefert ist.
Schenkte man dem uneingeschränkt Glauben, müsste jegliche Intervention wirkungslos bleiben. Doch genau diese Annahme deckt sich weder mit dem, was die epigenetische Forschung entdeckt, noch mit dem, was in der therapeutischen Praxis passiert. Mir fällt kein einziger Klient mit schmerzendem Erbe ein, der einer Behandlung gegenüber immun geblieben wäre. Immer war Veränderung sichtbar, was die Vorstellung einer unumstößlichen Prägung wackeln ließ.
Bei näherem Hinsehen kommen hier ganz andere Faktoren ins Spiel als ein stures genetisches Schicksal. Gar nicht so selten steht das Schmerzverhalten im Mittelpunkt des Geschehens, das als funktionelles Reaktionsmodell gelernt, übernommen und verinnerlicht worden ist. Menschliche Funktion wird nicht vererbt, sondern vorgelebt.
Schmerz konkret
Tina
leidet seit dem Kindesalter an Rheumatoidarthritis. Ihre Kindheitserinnerungen bestehen aus Arztbesuchen, Krankengymnastik, harzigen Einreibungen sowie den mitleidigen Kommentaren ihrer Behandler, die der Meinung waren, das grausame Schicksal ihrer Mutter habe auch sie ereilt. In Tinas Denken hatte es deshalb nie einen Platz dafür gegeben, dass ihre Zukunft hinterfragbar sei. Sie wuchs in dem Glauben auf, dass Schmerz zu ihrem Leben dazugehört.
Im Alter von vierzig Jahren bestand der Hauptteil ihrer Behandlung darin, der Aussicht auf Schmerzreduktion wenigstens eine Chance zu geben. Doch selbst als die Schmerzen ihren Charakter veränderten und zeitweise sogar ausblieben, fiel es Tina schwer, diese Realität anzunehmen. Sie konnte nicht glauben, dass ihr „Erbe“ außer Kraft gesetzt worden war.
Bernd
zog sich immer zurück, wenn es Probleme gab. Aber auch schon, wenn sich solche nur anbahnten, brütete er eine Migräne aus. „Er hat ein schwaches Nervenkostüm wie seine Mutter, und bei seinem Großvater war das auch schon so“, lautete die Erklärung seiner Familie.
Als Bernd zu meditieren begann und sich nach der Feldenkraismethode behandeln ließ, wurde ihm im Handumdrehen klar, welches innere Modell er unbewusst übernommen hatte: Wenn es konfliktreich wird, ziehe ich mich zurück, und wenn ich dann nach drei Tagen Bettruhe wieder einsatzfähig bin, hat sich das Problem erledigt. Diese unbewusste Strategie hatte ihm seine Mutter über viele Kinderjahre vorgelebt, um haarigen Konfrontationen aus dem Weg zu gehen.
Empathischer Schmerz
Die Modellfunktion von Schmerzerleben durch andere Menschen sollte nicht unterschätzt werden. Erst kürzlich habe ich dazu eine Studie gelesen, die sich mit dem Unterschied zwischen dem Empfinden selbsterlebten Schmerzes und einem als empathisch bezeichneten Schmerz befasst.
Letzterer bezieht sich auf das Gefühl, das sich einstellt, wenn wir Schmerz an anderen beobachten, beispielsweise, wenn andere Menschen verletzt werden oder unter Schmerzen leiden. Erstaunlich ist, dass dabei dieselben Hirnzentren aktiviert werden, ganz gleich, ob der Schmerz uns selbst oder einer anderen Person widerfährt.
Und auch die Konsequenz ist eine ähnliche. Eine solche sekundäre Schmerzerfahrung macht uns ebenfalls vorsichtiger oder ängstlicher, sobald wir in eine ähnliche Situation geraten. Dazu habe ich eine eigene Erfahrung.
Als ich fünf Jahre alt war, hat sich der Vater meines Kindergartenfreundes mit der Kreissäge den Daumen abgesägt. Ich habe das nicht miterlebt, sondern nur davon gehört. Das Ganze muss meine Vorstellung von Schmerz offenbar so überfordert haben, dass ich mir nicht nur für mehrere Tage den rechten Daumen hielt wie mein Freund, sondern bereits das Geräusch einer Kreissäge verursachte mir noch Jahre später Daumenschmerz, der mich zusammenzucken ließ. Die Assoziation von Kreissäge gleich Schmerz ist in meinem Unterbewusstsein durch eine bloße Vorstellung abgespeichert worden. Ich konnte sie erst auflösen, als ich mir dessen bewusst geworden war.
Doch warum erzähle ich das? Wenn wir einmal bedenken, wie viele Menschen Schmerz und schmerzhafte Vorbilder in ihrem Umfeld erleben, wird dies interessant. Wir müssen eine physische – oder seelische – Verletzung nicht einmal selbst erleiden, um diese als Schmerzerfahrung zu verbuchen, so dass das Gehirn sensibel für ein gesteigertes Schmerzempfinden wird. Und tatsächlich finden sich in zahlreichen Anamnesen Schmerzbetroffener mit Leiden verbundene Erlebnisse, die ihnen gar nicht selbst passiert sind, sich aber dennoch ihren Weg ins Unterbewusstsein gebahnt haben.
Die Gene
Kommen wir aber noch einmal auf die Gene zurück. Die Wirkung der Gene auf die Entwicklung von Schmerz mag auch deswegen für so machtvoll gehalten werden, weil die Schmerzforschung bestimmte genetische Dispositionen als Urheber von Schmerz belegt.
Beispielsweise haben Forscher herausgefunden, dass Menschen mit einer niedrigen Schmerzschwelle anfälliger dafür sind, chronische Schmerzen zu entwickeln. Das korreliert wiederum damit, dass ein hoher Prozentsatz von ihnen eine geringere Variabilität in der DNA aufweist. Mit einer bestimmten, wenig variablen Disposition der DNA-Proteine scheint das Nervensystem leichter und früher in einen veränderten Schmerzmodus umzuschalten, als das normalerweise passiert. Dasselbe geschieht übrigens unter dem Einfluss von dauerhaftem Stress, der ebenso zu einer veränderten Proteinsituation in der DNA führt und das Entstehen von Schmerz hofiert.
Gerade hier bietet es sich an, Fragen zu stellen. Wenn die Verbindung zu unserer genetischen Ausstattung im krankmachenden Sinne tatsächlich prägend und lebendig ist, warum sollten die DNA-Proteine dann immun bleiben, wenn sich ihre Umgebung und Informationsverarbeitung revidiert? Auf demselben Wege, wie Menschen mit einer niedrigen Schmerzschwelle lernen können, diese anzuheben, kann auch ein von Stress Geplagter lernen, belastungsresistenter zu sein. Vielleicht besteht ja sogar eine Chance für die mit Schmerz in Verbindung gebrachten Gene, wenn ihnen ein neurophysiologisch günstiger Nährboden bereitet wird?
Schmerzpunkt II
Unbestritten ist, dass sich sowohl die Ursachenfindung als auch die Diagnostik von Dauerschmerz komplexer gestaltet, als es allen Beteiligten gefällt. Die einzigen Maßgaben, die gesichert zu sein scheinen, sind: Unregelmäßigkeit, Wildheit und Spontanität. Es liegt nahe, dass Schmerztherapie vor diesem Hintergrund eine Herausforderung ist.
Schmerztherapie
Symptombekämpfung
Vorausgesetzt, eine Behandlungsstrategie zielt auf Nachhaltigkeit, kann sie erst dann erfolgreich sein, wenn sie die Quelle des Schmerzes berührt. Das leuchtet so gut wie jedem Schmerzerfahrenen ein. Bleibt diese aber unerreicht, stellt sich automatisch die Frage, was es dann ist, das konkret behandelt wird.
Dieses Thema stand im Mittelpunkt mehrerer Schmerzkongresse, die ich in den letzten Jahren besucht habe. Schmerzexperten aus Medizin und Psychosomatik rangen auf verschiedensten Podien um neue Zugänge zum nervenaufreibenden Thema Schmerz. Was sich am Ende als nahezu deckungsgleich herausstellte, war zwar wenig ermutigend, dafür aber ehrlich und klar: Von einem Modell zum Heilen von Schmerzen ist die Schulmedizin meilenweit entfernt. Das Einzige, was tatsächlich bleibt, ist die übliche Versuch-Irrtum-Strategie: Wenn’s glückt, fein; wenn nicht, Pech gehabt.
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