Schmerz konkret
Marlen
war ein Leben lang gesund und brach dann inmitten einer Unterrichtsstunde zusammen. Nachdem die Ärzte keine physische Ursache finden konnten, schickten sie Marlen durch den gesamten diagnostischen Marathon, den das örtliche Krankenhaus zu bieten hatte. Schlimm waren nicht die Untersuchungen an sich, so Marlen, sondern das Zusammentreffen mit Medizinern, die sich mehr für die dokumentierten Ergebnisse interessierten als für sie als Mensch. „Ich bin mir in meinem Leben noch nie so überflüssig vorgekommen“, berichtet sie. „Es war manchmal, als wäre ich gar nicht da, nur mein Röntgenbild, meine Blutwerte, mein EKG.“
Udo
war auf Drängen seiner Frau zur Alternativmedizin verdonnert und begab sich wegen anhaltender Magenschmerzen in homöopathische Behandlung. Schlimm war nicht nur, dass er Angst hatte, wie er später gestand, er misstraute dem Praktiker auch und verstand nicht, warum sich dieser mehr für seine Familiengeschichte und den frühen Tod seines Vaters interessierte als für seine akute Situation. Dass die Behandlung mit homöopathischen Kügelchen fehlschlug, leuchtet ein, denn Udos Widerstand wuchs mit jeder Konsultation.
Schmerzpunkt III
Ob schulmedizinisch oder alternativ, ob mit oder ohne Bewegung, psychischer Begleitung, physiotherapeutischer oder mentaler, in jedem dieser Denkansätze steckt ein Fünkchen Wahrheit. Doch wenn wir einen der Wege verallgemeinern wollen, ist sein Scheitern vorprogrammiert. Weil es keine Konsistenz gibt, existiert auch keine Generalisierung, wie Schmerzbehandlung allgemeingültig strukturiert werden soll.
Schmerz, das Lieblingskind der Pharmazie
Analgetika und Co
Kommen wir schließlich zum letzten Aspekt, dem größten Zankapfel auf dem Schmerzsektor, zu den Medikamenten. Unabhängig davon, ob chemisch, pflanzlich oder homöopathisch, wer Schmerzen hat, fragt zumeist schnell nach der Powerpille, die seiner Tortur ein sofortiges Ende setzt. Und da geht es gleich weiter im Kanon der Anomalien. Während ein Analgetikum bei einem Patienten Wunder wirkt, lässt dasselbe den nächsten mit gleicher Diagnose kalt. Es ist längst kein Geheimnis mehr: Schmerzmittelverschreibung ist so etwas wie eine Schneeballschlacht. Entweder man trifft oder man trifft nicht.
Was uns unmittelbar zu den Nebenwirkungen bringt, die ihren Namen bei Dauermedikation zu Unrecht verdienen. Denn bei vielen Konsumenten kristallisieren sich gerade diese als das Hauptproblem heraus. Während mancher Schmerzgeplagte glücklich mit seinem Medikament ist, sich gut eingestellt fühlt und sein Leben lebt, steht ein nächster mit derselben Substanz enorme Torturen durch, weil der Körper massive Symptome erzeugt und sich gegen die chemische Keule wehrt. Funktionelle Dysregulation, Immunabwehrschwäche bis hin zu handfesten Folgeerkrankungen schlagen zu Buche, die Abhängigkeit führt nicht selten zum psychischen Eklat.
Opioide beispielsweise, die bei neuropathischem Schmerz oder Rückenbeschwerden relativ salopp verabreicht werden, stehen in der Liste der Nebeneffekte ganz oben: Verstopfung, Durchfall, Erbrechen, Müdigkeit, Schwindel, Hautprobleme und – man staune! – auch Kopfschmerzen gehören dazu. Und, nein, es ist kein Witz: „Medikamenteninduzierter Schmerz“ heißt dann tatsächlich jener, der durch den Dauerkonsum von Schmerzmitteln entsteht und gar nicht so selten mit weiteren Analgetika behandelt wird. Unter den Kopfschmerzen wird er von Medizinern auf immerhin vierzig Prozent geschätzt.
Doch auch hier kann man noch eins draufsetzen: Erschreckenderweise mehren sich Studien darüber, dass die Dauereinnahme von Opioiden und deren Überdosierung langfristig sogar zu Todesfällen führen kann.
Gesenkte Schmerzschwelle
Da Dauermedikation zu einer Erhöhung der Schmerzempfindlichkeit führt, addiert sich diese der Liste der Nebenwirkungen in führender Position hinzu. Obwohl bekannt ist, dass Betroffene durch die Einnahme von Schmerzmitteln schmerzempfindlicher werden, antwortet man vielerorts dennoch mit einer gesteigerten Dosierung darauf. Ein Teufelskreis wird manifestiert: Wenn Schmerzsignale bereits gewohnheitsmäßig von Nervenzelle zu Nervenzelle weitergegeben werden, die Schmerzsensitivierung in Rückenmark und Gehirn sowieso schon hoch ist und zu noch intensiverem Schmerzempfinden führt, setzt das ständige Höherdosieren von Schmerzmitteln dem Ganzen noch eins drauf: Auf Dauer tut die schmerzmeldende Region nämlich nicht nur heftiger, sondern auch immer früher weh. Therapieversuche gestalten sich infolgedessen als noch komplizierter. Selbst wenn sie intelligent sind, reduziert sich ihre Chance auf Erfolg.
Darüber hinaus drosselt die Dauergabe von Medikamenten die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, in der ich eine der Hauptressourcen für eine neurophysiologisch sinnvolle Schmerzbehandlung sehe. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass sich der betreffende Mensch fühlen und wahrnehmen kann und sich sein Körper infolgedessen von selbst wieder reguliert.
Schmerzmittelsucht
Im Zuge der Dauermedikation beobachte ich noch eine weitere Konsequenz. Dass die Abhängigkeit von Schmerzmitteln keine Lappalie ist, weiß ich von zahlreichen Klienten, für die der Entzug nahezu unvorstellbar war.
Schmerz konkret
Anita
hat sich als Fachärztin für Innere Medizin aufgrund jahrelanger Rückenschmerzen selbst medikamentiert. Anfangs gab es noch Spielraum, doch mit der Trennung von ihrem Partner schlug der Schmerz stärkere Töne an und parallel dazu stieg die selbstverordnete Dosis des Opiats. Als ich Anita traf, war es für sie undenkbar, je wieder ohne Schmerzmittel zu leben. Selbst als der Schmerz nachließ, bestand sie auf der unveränderten Einnahme ihres Cocktails. Schmerzfreiheit war in ihrer Vorstellung etwas, das einzig durch Medikamente herstellbar sei.
Jacob
brachte es mit dem Ziel, seine Schmerzmittel so schnell wie möglich loszuwerden, auf den Punkt: „Ich kann es allein nicht schaffen … Ich fürchte, dass ohne Mittel alles sofort wieder beim Alten ist.“ Schließlich staunte er, als er nach ganzen sechs Wochen wieder „nüchtern“ war.
Die Schmerzmittelsucht ist aber längst nicht alles, was die Abhängigkeit von Medikamenten betrifft. Bei vielen Schmerzerfahrenen kommen mit der Zeit auch Psychopharmaka hinzu, deren Einnahme ebenso zu einer unumkehrbaren Gewohnheit werden kann. Und, ja, es ist nachvollziehbar: Schmerzen im Akkord gehen natürlich ans Gemüt. Es ist, als grüben sie sich tief in die Seele hinein, als zerstörten sie jegliche innere Stärke und legten die Nervenstränge blank. Für manchen Schmerzerfahrenen ist schwer zu differenzieren, welcher Teil mehr weh tut, die Bandscheibe, das arthroskopierte Knie, der Kopf oder die Seele.
Doch den Körper mit Schmerzmitteln und Psychopharmaka zu betäuben, halte ich nicht nur für riskant, sondern auch für kontraproduktiv, weil jede Form der Therapie unter diesen Bedingungen im Nebel der verschwommenen Wahrnehmung stattfinden muss und dies den Zugang zu den Ressourcen des Nervensystems versperrt.
Placebo-Effekte
Aufhorchen lässt hingegen, dass Schmerz mitunter auf Mittel ohne schmerzstillende Inhaltsstoffe reagiert. Bei manchen Betroffenen schlagen Schlafmittel an, wenn der Schmerzschub aufzieht, bei anderen wirken Muskelrelaxantien oder Antikonvulsiva als Mittel zur Krampflösung, während ein Antidepressivum bei der Behandlung von Muskel-, Nerven- oder Arthritisschmerz Wunder wirken kann. Es überrascht auch nicht, dass sich Schmerz mitunter vom Faltenkiller Botox in die Flucht schlagen lässt. Allesamt paradoxe Wirkungen, was die Gabe von Placeboprodukten ins Spiel bringt. Von leeren Pillen bis zu gehaltlosen Injektionen, es ist mit gängiger Logik nicht zu erklären, welcher innere Mechanismus hier wirksam wird.
Betroffene begehren bei dieser These gewöhnlich auf: „Bilde ich mir das alles etwa ein?“, so der Tenor des Widerstandes. Nein, das tun