Indem wir uns die ungeheure Bedeutung vergegenwärtigen, die dem Überwinden von engherzig und engstirnig machenden Gewohnheiten der Verführung innewohnt, erweitert sich unsere Perspektive. In der Umsetzung der befreienden Lehren des Buddha praktizieren wir den vom Buddha entdeckten Weg der Läuterung, den seither so viele gegangen sind.
Zu den Sätzen, die mich besonders inspirieren, gehört die traditionelle Erklärung des Erwachens, die von Männern und Frauen gesprochen wird, wenn sie die Reise vollendet haben: »Es ist getan, was zu tun war.«
Uns auf Buddha, Dharma und Sangha zu besinnen, erinnert uns daran, dass für uns Erwachen ebenso möglich ist. Zu dem Erinnerungsaspekt der Achtsamkeit gehört auch die Betrachtung unserer Selbstverpflichtung zu tugendhaftem Verhalten (Sīla auf Pali). Würdigen wir unsere Sīla-Praxis, stärkt dies unser Selbstvertrauen und unsere Selbstachtung. Wir erinnern uns daran, dass wir den Geist darin üben können, heilsame Handlungen von unheilsamen zu unterscheiden.
Natürlich mischt sich manchmal auch unsere westliche Neigung zur Selbstkritik darunter. Als ich einmal in Burma praktizierte und eine Weile Schwierigkeiten hatte, empfahl mir mein burmesischer Meditationsmeister Sayadaw U Paṇḍita, über mein Sīla nachzudenken. Er wollte mich unterstützen, meinen Geist aufzuhellen und mehr Freude zu empfinden. Doch als ich hörte, ich solle über mein Sīla nachdenken, war mein erster Gedanke: »Was habe ich falsch gemacht?«
Die meisten von uns erleben hin und wieder ethische Fehltritte. Doch unsere Bereitschaft, sie zu erkennen und uns dann wieder darauf auszurichten, weder andere noch uns selbst zu schaden, lässt uns weiter fortschreiten. Wie der Buddha sagte: »Denn es bedeutet Wachstum in der Disziplin der Edlen, wenn sie ihren Regelverstoß als solchen sehen und gemäß dem Dharma Wiedergutmachung leisten, indem sie künftig Zurückhaltung üben.« Dies ist ein sehr viel gesünderer und wohltuenderer Ansatz, als sich wegen vergangener Taten mit Schuldgefühlen zu grämen.
DIE SPIRITUELLEN FÄHIGKEITEN AUSGLEICHEN
Achtsamkeit bewirkt zugleich einen Ausgleich dessen, was der Buddha »die fünf spirituellen Fähigkeiten« nannte: Vertrauen/Glauben [engl. faith], Energie, Achtsamkeit, Konzentration und Weisheit. Wir können unsere ganze spirituelle Reise auch als Stärkung und Ausgleich dieser Fähigkeiten betrachten. Achtsamkeit lässt uns bemerken, ob eine davon zu schwach oder übermäßig ausgeprägt ist, und schafft beispielsweise einen Ausgleich zwischen Vertrauen und Weisheit oder Energie und Konzentration. Haben wir zu viel Glauben, dann können wir dogmatisch werden und zu sehr von unseren eigenen Ansichten überzeugt sein. Wir sehen nur allzu oft, wie solch blinder Glaube in unserer Welt zu Konflikten und Leid führt.
Solange Vertrauen nicht mit Weisheit einhergeht, kann es passieren, dass wir unsere Meditationserfahrungen überbewerten. Wir nennen diesen Zustand »Pseudo-Nirvāna«. Dann entwickelt sich zwar unsere Erkenntnisfähigkeit, aber in unserer Begeisterung vergessen wir, achtsam zu sein. Haften wir an diesen Zuständen an, werden die Einsichten verfälscht.
Beschrieben wir verschiedene Erkenntniszustände, pflegte Sayadaw U Paṇḍita uns oft zu fragen: »Hast du es bemerkt?« Der eigentliche Maßstab unserer Praxis war unsere Achtsamkeit, nicht die Erfahrung eines bestimmten Zustands.
Wir können auch eine übermäßige Anhaftung an unser Verständnis oder unsere Einsicht entwickeln und uns damit zufriedengeben. In diesem Fall ist unser Vertrauen schwach, das uns dafür öffnet, was jenseits unseres derzeitigen Begriffsvermögens liegt. Durch Verständnis ohne Vertrauen können wir uns – meistens unwissentlich – in falsche Ansichten verstricken. Auf ähnliche Weise ist ein Gleichgewicht zwischen Bemühen und Konzentration wichtig. Zu viel Bemühen ohne ausreichende Konzentration führt nur zu Rastlosigkeit und Unruhe, während ein Übermaß an Konzentration ohne entsprechende Energie träge macht. Durch Achtsamkeit werden all diese Faktoren in der Balance gehalten.
BESCHÜTZERIN DES GEISTES
Neben dem Ausgleich der spirituellen Fähigkeiten dient Achtsamkeit auch als Hüterin der Sinnestore, weil sie uns bemerken lässt, was durch die Sinne erscheint, und hilft, uns nicht in der Ausbreitung des Verlangens zu verlieren. Mit Achtsamkeit gehen wir friedvoller durch unser Leben.
Zum Beispiel kann uns das achtsame Schauen in alltäglichen Situationen sehr helfen. Ich hatte eine erhellende Erfahrung, als ich einmal in New York die Fifth Avenue entlangging und in den Schaufenstern viele verführerische Dinge entdeckte, die zum Verkauf standen. Nach einer Weile bemerkte ich, wie mein Geist ständig verlangend nach diesen Dingen griff. In gewisser Weise war das angenehm, doch als ich tiefer schaute, sah ich, dass der mit Verlangen erfüllte Geist nicht gelassen ist; er ist ständig in einer gewissen Unruhe. Es ergab sich, dass ich ein paar Wochen später dieselbe Straße entlangging, aber aus irgendeinem Grund war ich diesmal achtsamer. Ich sah alles, was in den Schaufenstern dargeboten wurde, aber diesmal schaute ich einfach. Es war ein sehr viel glücklicherer und friedvollerer Seinszustand.
Achtsamkeit dient auch dazu, den Geist vor anderen ungeschickten Gedanken und Gefühlen zu schützen. Ohne Achtsamkeit agieren wir einfach all die verschiedenen Muster und Gewohnheiten unserer Konditionierung aus. Ajahn Sumedho, einer der westlichen Senior-Mönche der thailändischen Waldtradition, wies zutreffend darauf hin, unser Ziel solle nicht sein, unserem Herzen zu folgen, wie es oft verkündet wird, sondern es komme darauf an, unser Herz zu trainieren. Wir alle leben mit gemischten Motivationen; nicht alles, was wir im Herzen haben, ist weise oder heilsam. Die große Kraft der achtsamen Unterscheidung ermöglicht es uns, das Unheilsame zu unterlassen und das Gute zu fördern. Diese Unterscheidung ist für unser Glück und unser Wohlbefinden von unschätzbarem Wert.
In der Lehrrede »Die zwei Arten von Gedanken« beschreibt der Buddha verschiedene Aspekte dieser überwachenden und schützenden Funktion der Achtsamkeit. Diese Aspekte können uns helfen, einige der Nuancen von Achtsamkeit zu verstehen und zu erkennen, wie wir unseren Geist daran hindern können, in unheilsame Zustände zu verfallen.
»Ihr Bhikkhus, vor meiner Erleuchtung, als ich noch lediglich ein unerwachter Bodhisatta war, kam mir in den Sinn: ›Angenommen, ich teile meine Gedanken in zwei Klassen ein.‹ Auf die eine Seite brachte ich dann Gedanken der Sinnesbegierde, Gedanken des Übelwollens und Gedanken der Grausamkeit, und auf die andere Seite brachte ich Gedanken der Entsagung, Gedanken des Nicht-Übelwollens und Gedanken der Nicht-Grausamkeit.
Während ich so umsichtig, eifrig und entschlossen weilte, erschien ein Gedanke der Sinnesbegierde in mir. Ich verstand folgendermaßen: ›Dieser Gedanke der Sinnesbegierde ist in mir entstanden. Dies führt zu meinem eigenen Leid, zum Leid anderer und zum Leid beider; es beeinträchtigt Weisheit, verursacht Schwierigkeiten und führt von Nibbāna weg.‹ Als ich erwog: ›Dies führt zu meinem eigenen Leid‹, verschwand es; als ich erwog: ›Dies führt zum Leid anderer‹, verschwand es; als ich erwog: ›Dies führt zum Leid beider‹, verschwand es; als ich erwog: ›Dies beeinträchtigt Weisheit, verursacht Schwierigkeiten und führt von Nibbāna weg‹, verschwand es. Wann immer ein Gedanke der Sinnesbegierde in mir erschien, gab ich ihn auf, entfernte ich ihn, beseitigte ich ihn.«2
Auf dieselbe Weise setzt der Buddha Achtsamkeit bei missgünstigen und grausamen Gedanken ein. Bei sich wiederholenden ungeschickten Gedanken brauchen wir eine aktiv eingesetzte Achtsamkeit, denn was immer wir häufig denken, wird zu unserer geistigen Neigung, wie der Buddha später in dieser Lehrrede erklärt. Achtsamkeit hat die Kraft, uns zu zeigen, welche Arten von Gedanken auftauchen,