Liebe und Eigenständigkeit. Alfie Kohn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alfie Kohn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783867812719
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dann das Gefühl, etwas wert zu sein, wenn …“).18

      Edward Deci und Richard Ryan, zwei in der Forschung tätige Psychologen, die die Wichtigkeit dieser Unterscheidung betont haben, räumen ein, dass selbst Menschen mit etwas, was dem „wahren“ – oder bedingungslosen – Selbstwertgefühl nahe kommt, „sich wahrscheinlich freuen, wenn ihnen etwas gelingt, und enttäuscht sind, wenn etwas misslingt. Doch ihr Gefühl des eigenen Werts würde nicht in Abhängigkeit von ihren Leistungen schwanken, daher würden sie sich nicht als etwas Besseres oder als überlegen fühlen, wenn sie Erfolg haben, oder deprimiert und wertlos, wenn sie versagen.“19

      Diese extreme Schwankung ist nur eine der Folgen davon, das eigene Selbstwertgefühl darauf zu stützen, ob eine Reihe von Erwartungen – seien es die anderer Leute oder die eigenen – erfüllt werden oder nicht. Eine ganz aktuelle Studie kommt zu dem Ergebnis, dass ein an Bedingungen geknüpftes Selbstwertgefühl bei Hochschulstudenten mit „einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, zu trinken, um soziale Anerkennung zu erreichen und soziale Ausgrenzung zu vermeiden“, verbunden ist. Andere Forschungsarbeiten stellen einen Zusammenhang zu Ängstlichkeit, Feindseligkeit und einer defensiven Grundhaltung her. Solche Menschen neigen dazu, um sich zu schlagen, wenn ihr Selbstwertgefühl bedroht ist, was regelmäßig geschehen kann. Ebenso kann es sein, dass sie an Depressionen leiden und sich in selbstzerstörerisches Verhalten flüchten. Wenn sie sich nur wohlfühlen, wenn sie glauben, gut auszusehen, können sie anfällig für Essstörungen sein.20

      Im Gegensatz dazu stellt sich heraus, dass ein bedingungsloses Selbstwertgefühl – eben das, worüber man sich in manchen Kreisen lustig macht – das beste Ziel ist, das man anstreben kann.21 Menschen, die in der Regel nicht glauben, ihr Wert hinge von ihrer Leistung ab, neigen eher dazu, Misserfolge nur als vorübergehende Rückschläge anzusehen, als Probleme, die man lösen kann. Auch neigen sie offenbar weniger zu Ängsten oder Depressionen.22 Und noch etwas: Sie neigen auch weniger dazu, sich Sorgen um das Thema Selbstwertgefühl zu machen! Viel Zeit mit der Überlegung zu verbringen, wie gut man wohl ist, oder mit dem gezielten Versuch, sein Selbstwertgefühl zu steigern, funktioniert meist nicht besonders gut und ist auch ein schlechtes Zeichen. Es weist auf andere Probleme hin – speziell darauf, dass das Selbstwertgefühl verletzlich und an Bedingungen geknüpft ist. „Ein Paradox des Selbstwertgefühls: Wenn man es braucht, hat man es nicht, und wenn man es hat, braucht man es nicht.“23

      Was bringt Menschen dazu, diesen unglücklichen Zustand eines an Bedingungen geknüpften Selbstwertgefühls zu entwickeln? Welche Umstände führen dazu, dass sie sich selbst nur für gut halten, wenn…? Eine wahrscheinliche Ursache ist Wettbewerb: eine Situation, in der jemand nur dann Erfolg haben kann, wenn andere versagen, und wo der Ruhm nur für den Sieger reserviert wird. Das ist eine ausgezeichnete Methode, um den Glauben von Menschen an sich selbst zu untergraben und zu lehren, man sei nur dann etwas wert, wenn man triumphiert.24 Es gibt auch Grund zu der Annahme, dass ein an Bedingungen geknüpftes Selbstwertgefühl die Folge eines Erziehungsstils sein kann, bei dem Kinder zu stark kontrolliert werden, wie ich im folgenden Kapitel erläutern werde.

      Vor allem jedoch scheint ein an Bedingungen geknüpftes Selbstwertgefühl daher zu rühren, dass man von anderen nur unter gewissen Bedingungen anerkannt wird. Dies führt uns wieder dahin zurück, womit wir angefangen haben: Wenn Kinder das Gefühl haben, von ihren Eltern nur unter bestimmten Bedingungen geliebt zu werden – ein Gefühl, das typischerweise durch die Verwendung von Methoden des Liebesentzugs und der positiven Verstärkung hervorgerufen wird –, fällt es ihnen sehr schwer, sich selbst anzunehmen. Und von da an geht alles bergab.

3Zu viel Kontrolle

      Neulich kam meine Frau nachmittags mit unseren Kindern von einem Ausflug in den Park zurück. Sie schüttelte den Kopf und sprudelte hervor: „Ich kann es kaum fassen, wie manche Eltern mit ihren Kindern sprechen – so erniedrigend und feindselig. Warum haben sie überhaupt Kinder?“ Da ich selbst auch schon mehr als einmal etwas Ähnliches erlebt hatte, beschloss ich, etwas von dem, was wir in der Stadt hörten und sahen, aufzuschreiben. Innerhalb weniger Tage hatte ich unter anderem folgende Beobachtungen notiert:

      • Ein Kleinkind wurde scharf zurechtgewiesen, weil es im Kinderbereich der öffentlichen Bücherei mit einem Stoffbär geworfen hatte, obwohl niemand sonst in der Nähe war.

      • Ein Junge, der im Supermarkt gefragt hatte, ob er ein Plätzchen haben dürfte, bemerkte, dass ein anderer kleiner Junge eins aß. Als er seine Mutter darauf hinwies, sagte sie zu ihm: „Nun, das liegt sicher daran, dass er aufs Töpfchen geht.“

      • Ein kleiner Junge stieß einen lauten Freudenschrei aus, als er auf dem Spielplatz von einer Schaukel sprang. Daraufhin zischte seine Mutter: „Hör sofort mit dem Blödsinn auf! Das Schaukeln hat sich für heute erledigt. Noch einmal, und du bekommst eine Auszeit.“

      • An einem Wassertisch im Kindermuseum versuchte eine Mutter, ihren kleinen Sohn an allem Möglichen zu hindern, indem sie fälschlich behauptete, in dem Museum aufgestellte Schilder verböten genau das, was er gerade vorhatte – zum Beispiel: „Auf dem Schild steht, dass man nicht spritzen darf.“ Als er fragte warum, antwortete sie: „Es steht eben drauf.“

      Schon bald gab ich es wieder auf, mir Notizen zu machen. Abgesehen von der schieren Menge dieser Vorfälle, glichen sie sich untereinander auch ziemlich und es schien mir bald überflüssig und deprimierend zu sein, sie festzuhalten. Immer wieder erlebten wir, wie Eltern auf dem Spielplatz unvermittelt verkündeten, es sei Zeit zu gehen, und manchmal sogar ihr Kind am Arm packten. (Wenn es daraufhin weinte, wurde das gewöhnlich darauf zurückgeführt, dass es „müde“ sei.) Wir sahen Eltern, die unwissentlich einen Feldwebel imitierten, der seine Truppen einschüchtert – Nase an Nase, wobei sie ihren Finger nur Zentimeter vor dem Gesicht des Kindes in die Luft stießen und brüllten. Und wie oft hatten wir in Restaurants beobachtet, wie Eltern an ihren Kindern herumfuhrwerkten – ihre Manieren korrigierten, sie wegen ihrer Haltung zurechtwiesen, Bemerkungen darüber machten, was (und wie viel) sie aßen, und ganz allgemein das Essen zu etwas machten, von dem die Kinder so schnell wie möglich flüchten wollten. (Kein Wunder, dass so viele Kinder bei Mahlzeiten mit der Familie keinen Hunger haben, jedoch kurze Zeit später Appetit bekommen.)

      Lassen Sie mich Ihnen versichern: Bevor ich eigene Kinder hatte, habe ich viel härter geurteilt. Solange man nicht selbst einen Kinderwagen geschoben hat, begreift man nicht wirklich, wie so winzige Menschen es schaffen können, einen auf die Palme und ans Ende seiner Geduld zu bringen. (Natürlich kann man dann auch nicht die Augenblicke übernatürlichen Glücks, die sie einem bescheren können, genießen.) Das versuche ich im Hinterkopf zu behalten, wenn mich das Verhalten anderer Eltern zusammenzucken lässt. Und ich sage mir, dass ich die Geschichte der Familie, die ich nur ein paar Minuten beobachtet habe, ja nicht kenne – dass ich nicht weiß, was die Mutter oder der Vater an dem Morgen vielleicht erlebt hat und was das Kind gerade getan hat, bevor ich zufällig auf dem Schauplatz erschien.

      Dennoch. Trotz allem, was wir vielleicht berücksichtigen sollten, und aller Umstände, die wir bedenken sollten, ist eine Beobachtung festzuhalten: Für jedes Kind, das in der Öffentlichkeit unbeaufsichtigt herumrennt, gibt es Hunderte von Kindern, die von ihren Eltern unnötig eingeschränkt, angeschrieen, bedroht oder schikaniert werden, Kinder, deren Protest routinemäßig ignoriert und deren Fragen abgetan werden, Kinder, die sich daran gewöhnt haben, auf ihre Bitten ein automatisches „Nein!“ zu hören und ein „Weil ich es gesagt habe!“, wenn sie nach einem Grund fragen.

      Sie brauchen mir das nicht einfach so zu glauben. Tun Sie so, als wären sie Anthropologe, und beobachten Sie genau, was vor sich geht, wenn Sie das nächste Mal auf einem Spielplatz, in einem Einkaufszentrum oder auf einer Geburtstagsparty sind. Sie werden nichts sehen, was Sie noch nie gesehen haben, aber vielleicht bemerken Sie Einzelheiten, auf die Sie bisher kaum geachtet hatten. Vielleicht bieten sich einige Verallgemeinerungen über das, was sie miterleben, an. Doch seien Sie gewarnt: Es ist nicht immer angenehm, für das, was um einen herum vorgeht, sensibilisiert zu werden. Wenn Sie zu genau hinschauen, ist ein Tag im Park plötzlich kein Tag im Park mehr. Eine Mutter aus Kalifornien schrieb mir:

      Waren Sie in letzter Zeit mal im Supermarkt? Es