Binnen weniger Jahre erschienen in denselben Zeitschriften über experimentelle Psychologie mehrere Artikel mit Titeln wie „Dauer der Auszeit und Unterdrückung von abweichendem Verhalten bei Kindern“. Die Kinder, für die im Rahmen der betreffenden Studie Auszeiten verhängt wurden, wurden als „zurückgebliebene Heimkinder“ beschrieben. Doch bald wurde diese Art des Eingreifens ganz allgemein empfohlen, und sogar Erziehungsexperten, die über die Vorstellung, Kinder wie Versuchstiere zu behandeln, entsetzt gewesen wären, gaben Eltern enthusiastisch den Rat, ihren Kindern eine Auszeit zu geben, wenn sie etwas Falsches getan hatten. Rasch wurde die Auszeit zu dem „in der Fachliteratur am häufigsten empfohlenen Verfahren zur Disziplinierung vorpubertärer Kinder“.1
Wir sprechen also von einer Methode, die ursprünglich zur Steuerung tierischen Verhaltens eingesetzt wurde. Jedes dieser drei Worte kann Anlass zu Fragen geben, die uns beunruhigen können. Dem letzten Wort sind wir natürlich schon begegnet: Sollten wir unseren Blick nur auf das Verhalten richten? Bei einer Auszeit geht es, wie bei allen Bestrafungen und Belohnungen, nur um die Oberfläche. Sie dient ausschließlich dazu, ein Geschöpf zu bewegen, etwas Bestimmtes zu tun (oder damit aufzuhören).
Das Wort in der Mitte – tierischen – erinnert uns daran, dass die Behavioristen, die die Methode der Auszeit erfanden, der Ansicht waren, Menschen unterschieden sich nicht sehr von anderen Arten. Zwar „zeigen“ wir ein komplexeres Verhalten, einschließlich der Sprache, doch die Grundsätze des Lernens sind angeblich ziemlich ähnlich. Wer diese Überzeugung nicht teilt, denkt vielleicht lieber noch einmal darüber nach, ob er bei seinen Kindern eine Methode anwendet, die für Vögel und Nagetiere entwickelt wurde.
Und schließlich bleibt noch die Frage, die sich durch dieses ganze Buch zieht: Ist es sinnvoll, der Erziehung unserer Kinder ein Modell der Steuerung, der Kontrolle, zugrunde zu legen?
Selbst wenn die Geschichte und die theoretische Grundlage Sie nicht beunruhigen, betrachten Sie noch einmal den ursprünglichen Titel Auszeit von positiver Verstärkung.. Meist sind ja Eltern nicht gerade dabei, ihren Kindern Aufkleber oder Süßigkeiten zu geben, und beschließen plötzlich, damit aufzuhören. Was also ist die positive Verstärkung, die ausgesetzt wird, wenn ein Kind eine Auszeit bekommt? Manchmal macht es vielleicht gerade etwas, was Spaß macht, und wird gezwungen aufzuhören. Doch das ist nicht immer der Fall – und selbst wenn es so ist, steckt noch mehr dahinter, denke ich. Wenn man ein Kind fortschickt, ist das, was ihm wirklich weggenommen oder entzogen wird, Ihre Gegenwart, Ihre Aufmerksamkeit, Ihre Liebe. Vielleicht haben Sie das noch nicht so gesehen. Ja, möglicherweise bestehen Sie darauf, Ihrer Liebe zu Ihrem Kind habe sein Fehlverhalten nichts anhaben können. Doch wie wir gesehen haben, kommt es darauf an, wie sich die Dinge für das Kind darstellen.
Die Folgen des Liebesentzugs
In einem späteren Kapitel werde ich mehr über Alternativen zu Auszeiten sagen. Doch schauen wir uns zunächst das ganze Konzept des Liebesentzugs einmal genauer an. Für viele Menschen würde die erste Frage lauten, ob diese Methode funktioniert. Jedoch erweist sich diese Frage wieder als komplizierter, als sie scheint. Wir müssen fragen: „Was heißt ‚funktioniert‘?“, und wir müssen eine zeitweilige Änderung des Verhaltens gegen mögliche tiefer greifende und länger andauernde negative Folgen abwägen. Mit anderen Worten, wir müssen über die kurzfristigen Auswirkungen hinausblicken und wir müssen auch darauf achten, was sich unter der Oberfläche des sichtbaren Verhaltens abspielt. Denken Sie an die im letzten Kapitel beschriebene Befragung von Hochschulstudenten, bei der sich herausstellte, dass sich durch eine an Bedingungen geknüpfte Liebe zwar das Verhalten von Kindern mitunter erfolgreich ändern lässt, jedoch zu einem gewaltigen Preis. Dasselbe gilt auch für die konkrete Methode des Liebesentzugs.
Betrachten wir diesen Bericht der Mutter eines kleinen Jungen, den wir Lee nennen wollen:
Vor einiger Zeit stellte ich fest, dass ich, wenn Lee anfing Theater zu machen, gar nicht drohen musste, ihm irgendwelche schönen Dinge zu verbieten; ich musste nicht einmal laut werden. Ich teilte ihm nur ruhig mit, dass ich jetzt das Zimmer verlassen würde. Manchmal brauchte ich bloß auf die andere Seite des Zimmers zu gehen, von ihm weg, und zu sagen, ich würde warten, bis er aufhörte, zu schreien oder sich zu wehren oder was auch immer. Meistens war das erstaunlich wirkungsvoll. Er bettelte dann: „Nein, nicht!“, und wurde sofort ruhig oder tat, was ich ihm gesagt hatte. Anfangs zog ich daraus den Schluss, dass eine leichte Hand genügte. Ich konnte ihn dazu bringen, zu tun, was ich wollte, ohne ihn bestrafen zu müssen. Aber ich musste ständig an die Angst denken, die ich in seinen Augen sah. Mir wurde klar, dass das, was ich tat, für Lee eine Strafe war – vielleicht nur eine symbolische, aber eine, die ihm verdammt viel Angst einjagte.
Eine bedeutende Studie über die Wirksamkeit des Liebesentzugs stützt im Prinzip die Schlussfolgerung dieser Mutter: Manchmal scheint diese Methode tatsächlich zu wirken, doch das bedeutet nicht, dass wir sie anwenden sollten. Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts untersuchten Forscher des amerikanischen National Institute of Mental Health (NIMH), was Mütter mit ihren ungefähr ein Jahr alten Kindern machten. Offenbar wurde Liebesentzug – das bewusste Ignorieren eines Kindes oder das Erzwingen einer Trennung – in der Regel mit anderen Strategien kombiniert. Unabhängig davon, um welche Methoden es sich dabei handelte – vom Erklären bis hin zum Schlagen –, steigerte die zusätzliche Anwendung von Liebesentzug die Wahrscheinlichkeit, dass diese noch sehr kleinen Kinder die Wünsche ihrer Mütter befolgen würden, zumindest im Moment.
Doch die Forscher waren angesichts dessen, was sie sahen, eher besorgt als beruhigt und sie betonten, dass sie Eltern nicht raten würden, Liebesentzug anzuwenden. Erstens wiesen sie darauf hin, dass „Disziplinartechniken, die sofortige Folgsamkeit wirksam sicherstellen, nicht unbedingt auf lange Sicht wirksam sind“. Zweitens stellten sie fest, dass „Kinder auf Liebesentzug möglicherweise auf eine Weise reagieren, die in den Augen der Eltern Anlass zu weiteren Disziplinarmaßnamen gibt“. So kann ein Teufelskreis entstehen, bei dem Kinder schreien und protestieren, was zu weiterem Liebesentzug führt, was wiederum zu weiterem Schreien und Protestieren führt und so weiter. Und schließlich waren die Forscher auch dann, wenn diese Methode zum Erfolg führte, besorgt darüber, warum sie funktionierte.2
Vor vielen Jahren stellte ein Psychologe namens Martin Hoffman die Unterscheidung zwischen auf Macht beruhenden und auf Liebe beruhenden Erziehungsmethoden in Frage, indem er darauf hinwies, dass Liebesentzug, ein verbreitetes Beispiel für die zweite Methode, in Wirklichkeit viel mit härteren Formen von Bestrafung gemeinsam hat. Bei beiden Methoden wird Kindern vermittelt, dass wir ihnen, falls sie etwas tun, was uns nicht gefällt, Leid zufügen werden, um ihr Verhalten zu ändern. (Die einzige Frage ist dann nur noch, welche Art von Leid wir ihnen zufügen werden: körperlichen Schmerz durch Schlagen oder seelischen Schmerz durch erzwungene Isolierung.) Und beide beruhen darauf, dass Kinder dazu bewegt werden, sich auf die Folgen ihres Handelns für sich selbst zu konzentrieren, was natürlich etwas ganz anderes ist, als Kinder dazu zu erziehen, darüber nachzudenken, wie sich ihr Handeln auf andere Menschen auswirkt.
Hoffman äußerte daraufhin eine noch überraschendere Vermutung: In manchen Situationen könne Liebesentzug sogar schlimmer als andere augenscheinlich härtere Strafen sein. „Auch wenn Liebesentzug für das Kind keine körperliche oder materielle Bedrohung darstellt“, schrieb er, „kann er emotional verheerender sein als Durchsetzung von Macht, weil er die elementare Drohung des Verlassenwerdens oder der Trennung beinhaltet.“ Außerdem „weiß die Mutter oder der Vater, wann es wieder vorbei sein wird, doch ein sehr junges Kind weiß das möglicherweise noch nicht, weil es vollkommen von den Eltern abhängig ist und ihm darüber hinaus die Erfahrung und das Zeitgefühl fehlen, um zu erkennen, dass die Haltung der Eltern nur vorübergehend so ist“3.
Selbst Kinder, denen klar ist, dass Mama oder Papa irgendwann wieder mit ihnen sprechen (oder sie von ihrer Auszeit befreien) werden, erholen sich vielleicht nicht ganz von den Nachwirkungen dieser Bestrafung. Methoden des Liebesentzugs können zwar erfolgreich dazu führen, dass das Verhalten eines Kindes für Erwachsene akzeptabler