Wir haben bereits darüber gesprochen, wie stark unsere Emotionen unseren Geist beeinflussen und ausrichten. Das ist kein Zufall. Aus der Perspektive der Evolutionspsychologie betrachtet, haben wir all diese Gefühle, weil sie unseren Vorfahren halfen, zu überleben und ihre Gene an uns weiterzugeben.1 Von diesem Standpunkt aus gesehen, fallen menschliche Emotionen unter drei Kategorien: diejenigen, die sich entwickelten, um uns zu helfen, wahrgenommene Bedrohungen einzuordnen und darauf zu antworten, die, die uns helfen sollen, Ziele zu verfolgen und Dinge zu erwerben, welche wir für unser Überleben und die Reproduktion benötigen, und die, die entstanden sind, damit wir uns sicher fühlen, zufrieden sein und uns mit anderen verbinden können. Wir bezeichnen diese drei emotionalen Kategorien als das „Bedrohungssystem“, das „Antriebssystem“ und das „Beruhigungssystem“. Das Problem beginnt, wenn diese emotionalen Systeme aus dem Gleichgewicht geraten. Das kann zum Beispiel passieren, wenn unser Geist sich wie besessen auf reale oder eingebildete Bedrohungen fokussiert, oder auf die Dinge, die wir unbedingt haben wollen, und wir blind für die Bedürfnisse anderer (und manchmal auch unsere eigenen) werden. Das ist eines der größten Hindernisse für Mitgefühl. Das Bedrohungs- und das Antriebssystem sind sehr machtvoll, und wenn sie die Bühne beherrschen, kann die innere Stimme unserer besseren Natur von Gefühlen der Wut, Feindseligkeit und Angst, von materialistischen Wünschen, Verlangen oder kaltem, egoistischem Streben überlagert werden.
Obwohl all diese Reaktionen letztendlich dem Wunsch entspringen, glücklich zu sein und Leiden zu vermeiden, können sie Probleme verursachen. Es zeigen sich nicht die besten Seiten unseres Wesens, wenn wir uns in den Reaktionen des Bedrohungs- und Antriebssystems verfangen. Vielleicht sind wir sehr gut darin, diese Reaktionen bei anderen aufzuspüren – sind verärgert, wenn Leute sich auf eine Weise verhalten, die uns feindselig, schwammig oder habgierig vorkommt –, und kaum in der Lage, Wärme und Mitgefühl für sie zu empfinden. Und kurz darauf bemerken wir vielleicht, dass wir uns auch selbst dafür kritisieren, dass wir ähnlich fühlen oder handeln! Man kann leicht in so ein Muster hineingeraten, und es ist ebenso leicht, andere oder auch sich selbst dafür zu verurteilen, anzuklagen oder zu beschämen: „Er ist einfach ein Idiot!“ „Ich bin ein schwacher Mensch.“ Wir mögen überzeugt sein, dass diese Urteile gerechtfertigt sind; sie scheinen sehr gut zu passen. Aber wenn wir genauer hinschauen, können wir erkennen, dass diese harten Urteile ein weiteres Beispiel dafür sind, wie das Bedrohungssystem die Kontrolle über unseren Geist übernimmt und andere (oder uns selbst) angreift, wenn sie (oder wir) nicht so handeln, wie sie oder wir es unserer Meinung nach tun sollten. Es ist verständlich, aber es ist nicht hilfreich.
Meine (Russells) Antwort auf die Frage: „Was ist Mitgefühl?“, beinhaltet also die Erkenntnis, dass ein großer Teil unseres Leidens mit machtvollen, intensiven Gefühlen zu tun hat, die ohne unser bewusstes Gewahrsein in uns hochkommen können – Gefühle, die wir unbeabsichtigt mit unserem Denken und Handeln befeuern, was die Dinge letztendlich schlimmer statt besser macht. Anstatt sich selbst und andere dafür zu kritisieren, dass man diese Gefühle hat und ausdrückt, bedeutet Mitgefühl, zu akzeptieren, dass wir alle solche Gefühle hin und wieder haben, und bereit zu sein, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, wenn sie hochkommen. Mitgefühl heißt, etwas zu verstehen versuchen, anstatt zu urteilen. Es bedeutet, zu fragen: „Was könnte hilfreich bei meiner Auseinandersetzung mit diesen Gefühlen sein?“ Und dazu gehört auch, zu erkennen, dass es unsinnig ist, sich vorzuwerfen, dass man diese normalen menschlichen Gefühle hat, aber gleichzeitig zu sehen, dass man, will man das Leben führen, das man sich wünscht, die Zügel in die Hand nehmen und den eigenen Geist dahin lenken muss, wo man ihn haben möchte.
Dieses Gewahrsein kann transformierend sein. Wir verstehen das herausfordernde Verhalten von anderen (und unser eigenes) dann nicht so, dass etwas mit ihnen (oder mir) nicht stimmt, sondern als das Resultat emotionaler Reaktionen, die aus dem Gleichgewicht geraten sind. Indem wir verstehen, dass Gefühle wie Wut und Angst entstehen, wenn wir uns bedroht fühlen (ganz gleich, ob die Bedrohung real ist oder etwas, das wir uns zusammengereimt haben), können wir Mitgefühl für diejenigen empfinden, die in diesen Gefühlen gefangen sind. Wenn wir erleben, dass sich jemand feindselig verhält, können wir, anstatt zu sagen „Was für ein Idiot!“, vom Urteilen auf das Verständnis umschalten, das mit Mitgefühl verbunden ist: „Er ist gerade im Bedrohungssystem. Ich weiß, wie sich das anfühlt! Was könnte ich tun, um ihm zu helfen, sich sicher oder zumindest nicht noch stärker bedroht zu fühlen?“ Indem wir mitfühlend zu verstehen versuchen, anstatt zu urteilen und Etiketten zu kleben, finden wir oft Lösungen für Probleme, die zuvor unlösbar erschienen. Wir fangen an, Menschen eher als grundsätzlich wertvolle Wesen zu sehen, die mit Schwierigkeiten kämpfen, denn als Idioten, die uns Probleme bereiten. Das können wir auch für uns selbst tun. Wir können aufhören uns vorzuwerfen, dass wir normale menschliche Gefühle haben, vor allem, wenn wir uns vorgenommen haben, auf eine konstruktivere Art und Weise mit diesen Emotionen zu arbeiten. Wenn wir anfangen, auf die kritischen Urteile zu verzichten, die das Gefühl der Bedrohung bei uns und anderen aufrechterhalten, bekommen wir immer leichter Zugang zum Mitgefühl.
Etwa zu Beginn meiner (Russells) Gruppenarbeit im Gefängnis erlebte ich folgende Situation: Frau Sanders, eine Vollzugsbeamtin, öffnete vorsichtig die Tür und bat Richard, einen Gruppenteilnehmer, nach draußen zu kommen. Richard fragte, warum, und sie sagte ihm, dass er in der falschen Gruppe sei und für eine andere, obligatorische Gruppenaktivität eingeteilt sei, die zur gleichen Zeit stattfand. (Es gibt im Gefängnis bestimmte Arbeitsgruppen für die Gefangenen, an denen die Männer teilnehmen müssen – unsere gehört nicht dazu). Nun versuchte Richard zu erklären, dass er die Sache mit einem anderen Beamten besprochen und die Erlaubnis erhalten hatte, stattdessen an unserer Gruppe teilzunehmen. Die Vollzugsbeamtin erwiderte, sie habe keine Kenntnis von einer solchen Vereinbarung und bestand darauf, dass er sofort mitkam. Es ging zwischen den beiden vor der Gruppe noch eine Weile hin und her und sowohl Richard als auch Frau Sanders wurden immer angespannter und gereizter. Nach einer Weile trafen beide die kluge Entscheidung, das Gespräch unter vier Augen fortzusetzen, und verließen den Raum, um die Sache zu klären.
In schwierigen Situationen wie der oben beschriebenen kann leicht ein Gefühl der Bedrohung aufkommen. Indem wir denken: „Ich habe recht und du hast unrecht“, sind wir ausschließlich damit beschäftigt, uns gegen einen Angriff zu verteidigen. In solchen herausfordernden Situationen hören wir normalerweise nicht mehr zu, werden vielleicht lauter, schneiden dem anderen das Wort ab oder sprechen schneller. Das Problem ist allerdings, dass diese Verhaltensweisen sehr ineffektiv und absolut nicht dazu geeignet sind, dem anderen unsere Sichtweise zu vermitteln, weil sie das Bedrohungssystem der anderen Person aktivieren. Weil sie das Gefühl hat, nicht gehört oder verstanden zu werden, fängt sie vielleicht an, sich genauso zu verhalten wie wir, hört nicht mehr zu und wird lauter – was den Teufelskreis aufrechterhält, indem nun wiederum unser Bedrohungssystem aktiviert wird. Es ist, als würden unsere Bedrohungssysteme aufeinanderprallen, und die Situation kann leicht zu einer hitzigen Auseinandersetzung eskalieren. Wenn das in einem öffentlichen Raum oder vor anderen geschieht, empfinden wir unsere negativen Gefühle wie unter einem Vergrößerungsglas, weil wir wissen, dass wir von anderen beobachtet werden. Das kann sehr peinlich sein.
Wenn uns dieser Prozess bewusst wird, erkennen wir, dass ein Wechsel der Strategie alles verändern kann. Anstatt weiterhin auf das Bedrohungssystem der anderen Person einzuhämmern, können wir für einen Moment langsamer atmen, um unser eigenes Bedrohungssystem „herunterzufahren“ und dann unser Verhalten so ändern, dass sich der andere sicherer fühlt. Anstatt beispielsweise unsere eigene Sicht der Dinge pausenlos zu wiederholen, könnten wir sagen: „Es tut mir leid, ich war total darauf fixiert, meinen eigenen Standpunkt zu vertreten, und habe überhaupt nicht richtig zugehört. Könntest du mir deinen noch einmal erläutern, damit ich sicher sein kann, dich richtig verstanden zu haben?“ Stellen Sie sich vor, Sie befänden sich mitten in einer hitzigen Auseinandersetzung und der andere würde so etwas zu Ihnen sagen. Können Sie erkennen, wie eine solche Aussage, die dem anderen vermittelt, dass er respektiert wird und keine Bedrohung darstellt, den Druck aus einer wütenden Interaktion nehmen kann? Wenn wir uns bedroht fühlen