Hier kommt Mitgefühl ins Spiel. Denn nicht nur Emotionen wie Wut und süchtiges Verlangen können einen machtvollen Einfluss auf unseren Geist ausüben, auch Mitgefühl und Güte können das. Die gute Nachricht ist, dass Mitgefühl unseren Geist auf eine wirklich hilfreiche, konstruktive Weise beeinflusst, indem es unsere Aufmerksamkeit auf das Leiden richtet und darauf, wodurch es gelindert werden könnte. Indem wir die Qualität Mitgefühl in uns nähren, nutzen wir unsere Denkfähigkeit zu unserem Vorteil. Wir können uns vorstellen, dass wir auf andere Weisen handeln, um herauszufinden, was am besten helfen könnte. Wir können unsere Denkfähigkeit nutzen, um Fragen zu stellen: „Was könnte ihn dazu gebracht haben, so zu fühlen?“, „Was würde ihr helfen, sich sicher zu fühlen?“, „Was wäre in dieser Situation hilfreich?“ Wir können all diese inneren Fähigkeiten einsetzen, um einen mitfühlenden Bewusstseinszustand wachzurufen:
• Unsere Aufmerksamkeit auf Dinge richten, die hilfreich sind und die uns helfen, mitfühlender zu empfinden.
• Mit unserer Motivation arbeiten, uns dafür einsetzen, mitfühlender zu werden.
• Unsere Vorstellungskraft nutzen, um uns auszumalen, wie wir als zutiefst mitfühlende Wesen denken, fühlen und handeln würden und um mitfühlendes Handeln im Geiste zu üben.
• Unsere mentalen Fähigkeiten nutzen, um unsere Motivation zu stärken sowie Empathie und andere mitfühlende Qualitäten zu entwickeln.
• Uns in mitfühlendem Verhalten üben.
• Mit dem körperlichen Ausdruck unserer Gefühle arbeiten (beispielsweise mit der von Wut ausgelösten körperlichen Unruhe und Anspannung), das heißt den Körper zur Ruhe bringen, sodass wir aus dem Zustand der Gereiztheit herauskommen und in einen mehr mitfühlenden inneren Zustand gelangen können.
Durch mitfühlendes Verstehen dessen, wie sich unsere Gefühle in unserem Geist ausdrücken und ihn beeinflussen, bekommen wir eine Art Werkzeug für den Umgang mit unseren Gedanken an die Hand. Wir können uns zurücklehnen und zulassen, dass unsere Gefühle die Bühne beherrschen oder wir können uns dafür entscheiden, achtsam zu sein und uns auf eine Weise zu verhalten, die uns hilft, jene geistigen Qualitäten zu entwickeln, die wir haben möchten.
BETRACHTUNG
Wie Mitgefühl den Geist beeinflusst
Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um sich innerlich mit dem Empfinden von Mitgefühl zu verbinden. Atmen Sie ein wenig langsamer und versuchen Sie, sich eine Zeit ins Gedächtnis zu rufen, in der Sie vom Leiden – vielleicht vom Leiden einer geliebten Person – berührt wurden und helfen wollten. Lassen Sie sich noch einmal diesen inneren Wunsch spüren, der oder die andere möge frei vom Leiden sein. Was ging dabei in Ihrem Geist vor sich? Was haben Sie gefühlt? Was hat Ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen? Woran haben Sie gedacht und was haben Sie zu sich selbst gesagt? Was haben Sie sich vorgestellt? Welche körperlichen Empfindungen haben Sie wahrgenommen (Anspannung, Aktivierung etc.)? Zu welchem Handeln wurden Sie motiviert? Welche Schritte haben Sie unternommen? Nehmen Sie wahr, wie Mitgefühl Ihren Geist beeinflusst.
11 Optimismus – eine positive Kraft
Eine optimistische Einstellung ist nicht nur wesentlich für das Aufrechterhalten von Mitgefühl, sondern auch ganz allgemein für ein glückliches Leben. Und es gibt viele Gründe, optimistisch zu sein. Wenn wir Unangenehmes oder Leidvolles erleben, gibt es immer eine Ursache oder Bedingung, die diese Erfahrung hervorgebracht hat: Ein Mangel an Nahrung führt dazu, dass wir hungrig sind, Krankheit führt dazu, dass wir Schmerzen leiden und uns schlecht fühlen. Aber diese Ursachen und Bedingungen sind nicht permanent. Sie lassen nach oder verschwinden oft ganz, sodass unser Leiden ein Ende hat. Um beim Beispiel Krankheit zu bleiben: Es geht uns vielleicht extrem schlecht, weil wir eine bakterielle Lungenentzündung haben. Aber wenn Antibiotika die Ursache unserer Erkrankung – die Bakterien – zerstören, verschwindet auch unser Krankheitsgefühl. Selbst wenn die Beseitigung der unmittelbaren Ursache unseres Leidens nicht in unserer Macht steht – beispielsweise wenn ein geliebter Mensch gestorben ist –, wissen wir, dass der Schmerz im Laufe der Zeit nachlassen wird.
Vor einigen Jahren interviewte eine amerikanische Journalistin den Dalai Lama. Sie fragte: „Sie wirken so glücklich, aber Sie mussten vor vielen Jahren aus Ihrer Heimat fliehen und konnten bis heute nicht nach Tibet zurückkehren. Dort ereignete sich ein Völkermord und die Umwelt wurde in unglaublichem Ausmaß zerstört. Ihr Volk hat ungeheuer gelitten, sowohl die Menschen, die in Tibet blieben, als auch die, die Ihnen ins indische Exil gefolgt sind. Wieso sind Sie nicht wütend über die illegale Besetzung Ihres Landes durch die kommunistischen Chinesen?“
Der Dalai Lama schenkte ihr sein ansteckendes Lächeln und erwiderte: „Wenn ich wütend wäre, würde ich mich elend fühlen. Ich könnte nicht richtig schlafen oder essen und meine Gesundheit würde darunter leiden. Das würde niemandem helfen. Also schaue ich auf alles, was gut ist, erfreue mich daran und bleibe optimistisch.“
Die Antwort des Dalai Lama zeigt uns, dass es sogar unter schrecklichen Umständen möglich ist, optimistisch zu bleiben und sich zu freuen. Über die Segnungen des Mitgefühls für andere und für uns selbst nachzudenken, gibt uns Hoffnung und Zuversicht. Mit dieser positiven Haltung können wir geistige Muster transformieren und unsere guten Eigenschaften stärken, indem wir Mitgefühl entwickeln.
Echtes Mitgefühl bedeutet nicht, dass wir uns selbst ignorieren oder vernachlässigen. Es ist sogar sehr wichtig, dass wir Mitgefühl mit uns selbst haben: Wir sind Lebewesen, die wie alle anderen leidvolle Erfahrungen machen. Ist uns unser Wunsch, mitfühlend zu sein, bewusst, können wir auf uns selbst achten, unser eigenes Leiden anerkennen und damit umgehen. Das hat überhaupt nichts mit Selbstbezogenheit zu tun. Wenn wir selbstbezogen sind, interpretieren wir jede Situation von unserem begrenzten Standpunkt aus. Ich beziehe dann alles auf MICH, so als sei mein Glück wichtiger als das aller anderen und mein Leiden schlimmer als das aller anderen. Selbst unter katastrophalen Umständen ist es möglich, Optimismus und Lebensfreude zu bewahren, wenn man über die Segnungen des Mitgefühls für andere und sich selbst reflektiert.
Es stimmt auch nicht, dass wir leiden müssen, um echtes Mitgefühl für andere empfinden zu können. Manche Leute meinen, es sei egoistisch, auch nur das kleinste bisschen Freude zu empfinden: „Es gibt so viel Schmerz und Leid auf der Welt. Wenn ich mich davon nicht ständig niedergedrückt fühle, habe ich kein echtes Mitgefühl.“ Diese Denkweise ist jedoch falsch. Es ist nichts verkehrt daran, glücklich zu sein. Jeder von uns wünscht sich das! Es ist möglich, Freude zu empfinden, ohne egoistisch zu sein. Tatsächlich entfernt uns Mitgefühl von der Selbstbezogenheit, indem wir sowohl das Glück anderer als auch unser eigenes im Blick haben, und das vergrößert die Freude. Und diese Freude macht es uns wiederum leichter, Mitgefühl zu kultivieren.
BETRACHTUNG
Sich selbst mitfühlendes Verständnis entgegenbringen
Wie reagieren Sie, wenn Sie das Leid anderer sehen oder davon erfahren? Fühlen Sie sich schuldig, weil Sie glücklich sind, während andere leiden? Überlegen Sie, ob Sie dadurch mehr oder weniger hilfreich für andere sein können. Wenn wir von uns selbst verlangen, zu leiden, um mitfühlend sein zu können, wird uns unser Mitgefühl bald versiegen und damit ist niemandem geholfen. Schauen Sie, ob es Ihnen möglich ist, positive Gefühle zu haben – beispielsweise, sich darüber zu freuen, dass Sie in der Lage sind, sich berühren zu lassen und Empathie und Mitgefühl zu empfinden –, wenn Sie mit einer Situation konfrontiert werden, in der jemand wirklich leidet. Es kann inspirierend sein, zu erleben, dass an die Stelle unserer Schuldgefühle ein Gefühl der Fürsorge für andere tritt.
12 Drei Arten von Emotionen
Wenn wir daran arbeiten, Mitgefühl zu entwickeln, müssen wir