Unsere Angst weicht der Zuversicht: „Was auch geschieht, ich kann einen Weg finden, damit umzugehen.“ Indem wir erkennen, was uns verbindet, wird die Vorstellung vom „Feind“ lächerlich. Wenn wir uns durch Sichtweisen, die sich von unseren unterscheiden, nicht länger bedroht fühlen, werden wir besonnener, und das Bedürfnis, ständig unsere eigenen Ansichten durchzusetzen, weicht der Bereitschaft, zuzuhören und von anderen zu lernen.
Indem wir erkennen, dass die Dringlichkeit, die wir empfinden, wenn ein starkes Gefühl hochkommt, einfach nur ein Aspekt des Gefühls selbst ist, können wir auch sehen, wenn eine Situation eine ausgewogenere, differenziertere Herangehensweise erfordert. Denken Sie an eine Auseinandersetzung mit einem Partner oder einem Familienmitglied, bei der Sie wütend wurden und absolut sicher waren, dass Ihre Sichtweise die richtige ist. Die Wut oder Frustration kommt hoch und Sie verspüren den intensiven Drang, die Auseinandersetzung fortzuführen – zu versuchen, dem Gesprächspartner Ihren Standpunkt einzuhämmern –, selbst wenn Ihnen die Körpersprache Ihres Gegenübers eindeutig zu verstehen gibt, dass im Moment nichts zu ihm durchdringt. In solchen Situationen können wir erkennen, dass es bei unserem Drang, das Gespräch fortzusetzen, weniger darum geht, was jetzt hilfreich wäre. Es ist einfach nur die Art, wie sich unsere Wut in unserem Geist ausdrückt. Wenn wir das verstehen, können wir uns stattdessen entscheiden, zunächst einmal innezuhalten. Es ist bemerkenswert, wie unsere Fähigkeit, dies zu tun und dem anderen zuzuhören, dazu beiträgt, auch ihn dazu zu bewegen, sich „abzuregen“ und uns zuzuhören. Wir lernen auch, dass wir unsere Gefühle akzeptieren können, ohne sie auszuagieren, ihnen auszuweichen oder uns vorzuwerfen, dass wir sie haben. Stattdessen können wir ihnen wohlwollend begegnen, wie alten Freunden, die wir schätzen, die uns aber manchmal in die Irre führen können: „Wut, ich erkenne dich. Obwohl ich verstehe, dass du nur versuchst, mich zu schützen, ist deine Art, an die gegenwärtige Situation heranzugehen, nicht wirklich angemessen. Ich will dir helfen.“
Denken Sie an Menschen, die Ihnen vielleicht als Vorbild für Mitgefühl dienen können: Seine Heiligkeit der Dalai Lama, Jesus Christus, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela, Mutter Theresa. Sie alle zeigen Furchtlosigkeit im Angesicht von Situationen, die viele von uns veranlassen würden, sich wegzuducken. Sie machen weiter, wo sich viele andere abwenden würden. Das heißt nicht, dass sie nie Angst hatten. Es heißt einfach, dass sie keine Angst vor der Angst hatten. Sie akzeptierten ihre Angst und gingen dennoch weiter. Das ist der Mut des Mitgefühls.
BETRACHTUNG
Die Essenz des Mitgefühls ist die Erkenntnis, dass wir alle glücklich und frei von Leiden sein wollen.
Diese einfache Wahrheit verbindet uns alle. Denken Sie einmal über Ihr tiefstes Verlangen nach: Drehen sich nicht alle Ihre Aktivitäten jeden Tag um den Wunsch, glücklich zu sein und nicht zu leiden?
Das gilt auch für jeden anderen Menschen. Die Person, die im Supermarkt vor Ihnen in der Kassenschlange steht und laut in ihr Handy spricht, will glücklich sein und nicht leiden. Der Politiker, der in der Fernsehsendung seinen Kontrahenten bösartig attackiert, will glücklich sein und nicht leiden. Der Mann, der am Straßenrand um ein paar Münzen bettelt, will glücklich sein und nicht leiden. Wenn wir hinter die äußere Fassade der Handlungen anderer schauen können, sehen wir den tiefen Wunsch, glücklich zu sein und nicht zu leiden.
Erinnern Sie sich im Laufe des Tages bei Ihren Begegnungen mit anderen immer wieder daran, dass deren tiefster Wunsch, wie der Ihre, darin besteht, glücklich zu sein und nicht zu leiden. Wenn Sie an einer roten Ampel stehen, im Zug unterwegs sind, eine Straße entlang gehen oder in einer Schlange warten, schauen Sie sich die Menschen an und denken Sie: „Dieser Mensch wünscht sich genau wie ich, glücklich zu sein und nicht zu leiden.“ Lassen Sie dieses Bewusstsein tief in Ihr Herz sinken. Gehen Sie dann noch einen Schritt weiter und senden Sie diesen Menschen gute Wünsche: „Mögest du glücklich und frei von Leiden sein.“ Und diesen freundlichen Wunsch können wir auch zu uns selbst aussenden. Das wiederholte Aussenden mitfühlender Wünsche kann uns innerlich transformieren: Während wir uns allmählich mitfühlende Verhaltensweisen angewöhnen, ersetzen diese unsere Angewohnheit, zu urteilen, zu kritisieren und zu beschämen, die uns in der Wut, der Angst und Negativität gefangen hält.
TEIL II
Die „Bausteine“ des Mitgefühls
9 Achtsames Gewahrsein
Mitgefühl wird oft blockiert, wenn unser Geist von belastenden Gefühlen oder Gedanken quasi überrollt wird. Es ist ziemlich einfach, freundlich und mitfühlend zu sein, wenn alles gut läuft. Ein Problem entsteht erst, wenn uns Gefühle wie Wut, Angst, Eifersucht, Anspannung oder kritische und negative Gedanken „anspringen“. Wenn wir nicht achtgeben, können wir uns in solchen Emotionen und Gedanken verlieren und mit unserem Mitgefühl ist es schnell vorbei.
Seit Jahrzehnten arbeiten westliche Therapeuten mit achtsamkeitsbasierten Therapieansätzen, die auf traditionelle buddhistische Praktiken zurückgehen, um ihren Patienten zu helfen, mit problematischen Gefühlen und Gedanken umgehen zu lernen. Immer mehr wissenschaftliche Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass das regelmäßige Praktizieren der Achtsamkeitsmeditation sogar das Wachstum in Gehirnregionen anregen kann, die mit der Regulierung von Emotionen, dem Gefühl von Identität, Mitgefühl und Empathie assoziiert werden1. Es gibt eine Reihe ausgezeichneter Bücher und anderes Material über Achtsamkeit, falls Sie mehr darüber erfahren möchten. Wir werden nun kurz erläutern, auf welche Weise erhöhte Achtsamkeit uns dabei helfen kann, unser Potenzial zum Mitgefühl zu entfalten. Was genau ist eigentlich mit Achtsamkeit gemeint? In psychologischen Kreisen definieren wir Achtsamkeit allgemein als bewusstes, nicht urteilendes Gewahrsein dessen, was in unserem Inneren und um uns herum im gegenwärtigen Moment vor sich geht. Mit achtsamem Gewahrsein halten wir weder an unseren Erfahrungen fest noch lehnen wir sie ab, wir nehmen sie einfach zur Kenntnis und akzeptieren sie, wie sie sind. Wir können beispielsweise mit einem Familienmitglied über ein heikles Thema sprechen und wahrnehmen, wie unsere Stimme lauter wird und eine gewisse Schärfe bekommt. Dann wird uns bewusst, dass das von einem empfundenen Gefühl der Bedrohung herrührt und dass wir in die Defensive gehen und wütend werden. Achtsames Gewahrsein versetzt uns dann in die Lage, kluge Entscheidungen zu treffen – beispielsweise innezuhalten, „uns abzuregen“ und zu denken, bevor wir sprechen. Wenn wir belastende Gefühle und Gedanken nicht als solche wahrnehmen und nicht erkennen, dass es vorübergehende geistige Zustände sind, können wir leicht von ihnen fortgetragen werden.
Hier ein paar Beispiele: Ich (Russell) habe sowohl viel mit Eltern gearbeitet, die bei der Erziehung ihrer herausfordernden Kinder an ihre Grenzen stießen, als auch mit Erwachsenen, die schreckliche Kindheitserfahrungen mit ihren Eltern gemacht hatten. Stellen Sie sich eine Situation vor, in der ein Kind etwas tut, das uns wirklich sehr aufregt. Nehmen wir an, mein Sohn regt sich über irgendetwas auf und stößt aus Versehen gegen meine Lieblingsgitarre, die von ihrem Ständer rutscht und auf die steinerne Kamineinfassung knallt, sodass sie einen tiefen Kratzer abbekommt. In der Hitze des Gefechts, in der rasch Wut hochkommt, könnte es leicht passieren, dass wir gedankenlos Dinge sagen, die unserem geliebten Sohn großen Schmerz bereiten, Dinge, die wir niemals sagen würden, wenn wir in einer ausgeglichenen Stimmung wären: „Warum kannst du nicht aufpassen, wo du hintrittst? Bist du blöd? Ich kann nie etwas Schönes haben, ohne dass du es kaputtmachst! Geh‘ mir aus den Augen!“ Solche Kommentare können dauerhaften Schaden anrichten, besonders, wenn sie im Laufe vieler Jahre ständig oder häufig wiederholt werden.
Achtsames Gewahrsein kann uns helfen, bewusst wahrzunehmen, wenn wir von intensiven Gefühlen überwältigt werden, sodass wir unser Handeln in bessere Bahnen lenken können: „Oh je … ich bin wirklich wütend im Moment. Alles, was ich zu ihm sage, während ich mich so fühle, wird wahrscheinlich