Da wir gerade beim Thema Erziehung sind, sollte ich vielleicht noch anmerken, dass man Achtsamkeit auch auf andere Gefühle wie Angst und innere Unruhe anwenden kann. Zur Kunst der guten Erziehung gehört auch die Fähigkeit, ein gewisses Maß an Angst und Unbehagen auszuhalten, wenn unsere Kinder flügge werden und anfangen, die Welt auf eigene Faust zu erkunden. Das findet während ihrer gesamten Entwicklung statt – von dem Moment an, in dem sie laufen lernen und anfangen, unabhängig auf Spielplätzen herumzuspringen und zu spielen (herumrennen und unweigerlich hinfallen), bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie anfangen auszugehen, sich um Jobs zu bewerben und schließlich das Haus verlassen. In jedem Fall erfordert gute Elternschaft, dass wir ein Gleichgewicht herstellen können, das heißt, unseren Kindern soviel Unterstützung geben, wie sie brauchen, und gleichzeitig die Freiheit, zu lernen, herausfordernde oder schwierige Lebenssituationen selbst zu meistern. Wenn wir nicht in der Lage sind, unsere Angstgefühle oder unser Kontrollbedürfnis zu beobachten und zu akzeptieren, können wir leicht überbehütend und kontrollierend werden, um sicherzugehen, dass unsere Kinder nie etwas Leidvolles erleben. Doch dadurch lähmen wir sie.
Werden wir von solchen Emotionen überwältigt, könnte es sein, dass wir eine noch weniger hilfreiche Strategie verfolgen: dass wir unsere Kinder ignorieren oder uns gar völlig von ihnen zurückziehen, weil wir es nicht aushalten, mit anzusehen, wie sie sich abstrampeln. Achtsames Gewahrsein hilft uns, unsere eigenen Gefühle zu beobachten, zu akzeptieren und Verantwortung für sie zu übernehmen, damit wir mit ihnen arbeiten können, anstatt uns von ihnen unser Handeln diktieren zu lassen: „Natürlich ist es schwer, mit anzusehen, dass meine Tochter das durchmacht (und „das“ könnte alles sein, vom Sturz von einem Klettergerüst auf dem Spielplatz bis hin zu einer schmerzhaften Trennung), aber so lernt sie, solche Situationen selbst zu bewältigen. Was könnte mir helfen, meine eigenen Gefühle in den Griff zu bekommen, sodass ich für meine Tochter da sein kann, wenn sie mich braucht, aber ihr dennoch genügend Raum geben kann, sich als Individuum weiterzuentwickeln?“
Um auf das Thema belastende Emotionen und Gedanken zurückzukommen: Wir betrachten das, was wir denken, oft als absolute Wahrheit, sind überzeugt, dass „die Dinge so sind“, und reagieren dann, wenig überraschend, ziemlich heftig darauf. Unsere Gefühle sind sehr machtvoll, aber sie sind oft nicht besonders schlau – sie können nicht gut unterscheiden zwischen dem, was uns in der Außenwelt widerfährt, und den Gedanken und Bildern, die wir in unserem Geist produzieren.
Stellen Sie sich beispielsweise vor, Joe hält einen Vortrag und Gina, einer Frau in der ersten Reihe, fällt plötzlich ein, dass sie vergessen hat, einen Scheck einzureichen, der einige Abbuchungen decken soll, die übers Wochenende fällig werden. Die Bank schließt in zwanzig Minuten, also steht Gina abrupt auf – verärgert über sich selbst, weil sie es vergessen hat – und verlässt den Raum. Stellen Sie sich weiter vor, Joe bemerkt das und interpretiert ihr Verhalten auf eine selbstkritische Weise: „Sie denkt sicher, dass ich inkompetent bin und Unsinn rede.“ Er empfindet wahrscheinlich dieselben Gefühle, die er gehabt hätte, hätte Gina dies tatsächlich zu ihm gesagt: Scham, Anspannung, ein Gefühl der Peinlichkeit und vielleicht Feindseligkeit gegenüber Gina. Aber wir wissen natürlich, dass die Situation überhaupt nichts mit Joe zu tun hatte, er interpretierte ihr Handeln völlig falsch. Wir reagieren normalerweise sehr empfindlich auf wahrgenommene Bedrohungen, was dazu führen kann, dass wir Ereignisse irrtümlicherweise auf die denkbar schlimmste Art interpretieren und damit intensive emotionale Reaktionen auf mentale Vorgänge auslösen – auf Gedanken, Vorstellungen, Fantasien –, die kaum etwas mit dem zu tun haben, was tatsächlich vor sich geht.
Versuchen Sie sich nun vorzustellen, dass Joe anders reagiert. Stellen Sie sich vor, er ist sich seines Gedankens „Gina denkt, ich bin inkompetent und rede Unsinn“ bewusst und erkennt, dass es bloß ein Gedanke ist. Er hält inne, um nachzudenken: „Ich frage mich, ob es einen anderen Grund für ihr Verhalten gibt. Sie wirkte interessiert und engagiert. Vielleicht ist irgendetwas passiert, wovon ich nichts weiß.“ Stellen Sie sich vor, wie anders Joes emotionale Reaktion ausfallen würde, wenn ihm bewusst wäre, was in seinem Kopf vor sich geht.
Mit Achtsamkeit üben wir uns darin, unsere mentalen und emotionalen Erfahrungen als vorübergehende geistige Zustände zu erkennen und zu akzeptieren, ohne darüber zu urteilen oder daran festzuhalten. Indem wir uns auf unsere Gedanken und Gefühle als temporäre Erfahrungen beziehen, anstatt zu glauben, dass wir das sind oder dass die Dinge so sind, verschaffen wir uns den nötigen Raum, um damit zu arbeiten. Es ist der Unterschied zwischen dem völligen Gefangensein in der Wut und der Beobachtung: „Ich bin im Moment wirklich wütend. Ich frage mich, was mir jetzt helfen könnte, meinen Gefühlszustand zu ändern.“
Das Akronym RAIN kann uns helfen, uns an den inneren Prozess zu erinnern, um den es bei der Achtsamkeit geht:
R – Registrieren: zur Kenntnis nehmen, was in uns vor sich geht.
A – Akzeptieren: unserer Erfahrung erlauben, zu sein, wie sie ist.
I – Inspizieren: genau anschauen, was sich in uns abspielt.
N – Nicht identifizieren: durch das Beobachten unserer Erfahrung, ohne eins mit ihr zu werden.2
Achtsamkeit ermöglicht ein akzeptierendes, urteilsfreies Gewahrsein unserer Gedanken und Gefühle, sodass wir sie nicht notwendigerweise glauben müssen. Dadurch beginnen wir allmählich, anders über unsere Gefühle zu denken und zu sprechen, indem wir beispielsweise sagen: „Ich fühle Wut“ anstatt „Ich bin wütend.“ Die erste Aussage erkennt Wut als eine Erfahrung innerhalb unseres umfassenderen Gewahrseins an, mit der wir arbeiten und die wir verändern können. Die zweite Aussage spiegelt Identifikation wider: Wir fühlen uns eins mit der Emotion und sehen keine Möglichkeit, damit zu arbeiten.
Achtsamkeit hilft uns, Mitgefühl zu entwickeln, denn je mehr wir unserer sich ständig verändernden Gedanken und emotionalen Zustände gewahr sind, desto besser können wir mit den schwierigen arbeiten und jene inneren Erfahrungen kultivieren, die wir haben möchten (wie Mitgefühl!). Wir können auch beschließen, Mitgefühl in unser achtsames Gewahrsein hineinzubringen. Auf diese Weise praktizieren wir gleichzeitig Achtsamkeit und Selbstmitgefühl: „Ich fühle mich jetzt ängstlich (wütend, eifersüchtig, traurig). Wie kann ich mir in diesem Leiden selbst helfen und damit arbeiten?“
Eine bekannte Methode, sich in Achtsamkeit zu üben, ist die achtsame Beobachtung des Atems, die gerne zu Beginn angewandt wird. Dazu setzen wir uns aufrecht hin und lenken unsere Aufmerksamkeit sanft und freundlich auf den Atem. Wenn die Aufmerksamkeit nachlässt, weil sich Gedanken oder Ablenkungen einblenden, nehmen wir diese wahr, akzeptieren sie und bringen unsere Aufmerksamkeit sanft zum Atem zurück. Es gibt keinen Grund, frustriert zu sein, wenn wir feststellen, dass wir von unseren Gedanken fortgetragen wurden. Es ist ganz natürlich, dass Ablenkungen auftauchen, und es gelingt uns mit der Zeit immer besser, mit der Aufmerksamkeit da zu bleiben. Tatsächlich helfen uns diese Ablenkungen, uns darin zu üben, bestimmte Vorgänge in unserem Geist wahrzunehmen – beispielsweise, wenn Gedanken oder Gefühle auftauchen –, sodass wir dann mit diesen Erfahrungen arbeiten können. Im Laufe der Zeit werden wir diese Gedanken schneller wahrnehmen, akzeptieren, loslassen und unser achtsames Gewahrsein wieder zum Atem zurückbringen. Indem wir unsere Aufmerksamkeit wieder auf den Atem lenken, wollen wir unsere Gedanken oder Gefühle nicht unterdrücken oder ignorieren, sondern lernen, sie wahrzunehmen und ein wenig inneren Raum zu schaffen, damit wir nicht automatisch in unproduktive Gedankenschleifen hineingezogen werden, die uns leiden lassen. Es