2.2.2 Der homo œconomicus
Die als Neoklassik bekannte allgemeine Gleichgewichtstheorie der Mikroökonomie steht unzweideutig in der individualistischen Tradition, d. h. sie sucht gesellschaftliche Phänome als Gesamtresultat der Entscheidungen individueller Akteure zu erklären. Die Entscheidungen der Akteure werden wiederum auf eine individuelle Präferenzordnung zurückgeführt. Diese selbst wird unterstellt, aber nicht mehr selbst erklärt. Die Ökonomie betrachtet sie als eine sogenannte exogene Variable:
1 die Präferenzen sind exogen.
Sodann werden eine Reihe weiterer Unterstellungen über den ökonomischen Akteur gemacht, welche in dem Bild des homo œconomicus zusammengefasst werden. Er ist charakterisiert durch zwei Merkmale, zusammengefasst im Rationalitäts-Axiom:
2. der homo œconomicus strebt nach Maximierung seines Nutzens oder Wohlergehens;
3. sein Verhalten ist rational.
Rationalität des Verhaltens bedeutet im Wesentlichen, dass der Akteur angesichts zweier Alternativen immer eine Präferenz hat (Postulat der Vollständigkeit) und dass seine Präferenzen konsistent sind, insbesondere seine Präferenzordnung transitiv ist: Zieht er A der Alternative B und diese C vor, so zieht er auch AC vor. »Rational« heißt insbesondere also nicht, dass der Akteur mit Bedacht und aufgrund von Überlegungen handelt, sondern nur, dass sein – durchaus spontanes, durch die Präferenzen diktiertes – Verhalten von außen als rational im Sinne der genannten formalen Kriterien beurteilt wird.
Wir sollten an dieser Stelle schon festhalten, dass der Zusammenhang zwischen Präferenz, Verhalten und Nutzen ein rein analytischer, denn begrifflicher ist, also keinen empirischen Teil der Theorie ausmacht: eine gegebene Präferenz führt unter gegebenen Umständen zu einem bestimmten Verhalten, welches ein bestimmtes Wohlergehen zur Folge hat – per definitionem, nicht erfahrungsgemäß.20 In der Tat stellt das Verhalten die einzige direkt beobachtbare Größe dar, während die Begriffe der Präferenz und des Nutzens allein dem Theoretisieren über das Verhalten angehören. Wir werden auf diesen Zusammenhang in Kapitel 3 zurückkommen.
Bei dieser Gelegenheit drängt sich eine weitere wichtige Präzisierung auf. Es wird oft behauptet, der homo œconomicus sei egoistisch. Es ist wichtig, in dieser Frage sehr genau zu sein, da hier oftmals die Kritik ansetzt, die den Menschen freundlicher glaubt (siehe dazu wiederum Kapitel 3). Demgegenüber sollten wir gleich an dieser Stelle zweierlei betonen: Erstens ist das Prinzip der Entscheidung nach individuellen Präferenzen und zwecks Nutzenmaximierung schon deswegen nicht – oder nur in einem trivialen Sinne – gleichbedeutend mit einem egoistischen Akteur, da es, wie wir gerade betonten, keine empirische Behauptung über den Akteur zum Ausdruck bringen kann, sondern einfach aus den Definitionen folgt. Aber selbst wenn die Präferenzordnung des Individuums, wie es bisweilen geschieht, durch die zusätzliche Forderung eingeschränkt wird, dass seine Präferenzen und der aus den Gütern resultierende Nutzen nicht vom Kontext abhängen dürfen, insbesondre also nicht von der die übrigen Individuen betreffenden Distribution von Gütern, –
4. Unabhängigkeit: die Präferenzen des homo œconomicus sind von anderen Individuen unbeeinflusst.
– selbst dann haben wir es zweitens nicht im eigentlichen Wortsinn mit einem egoistischen Akteur zu tun. Es wird zwar oft die uneigennützige Handlung, sei es aus Mitleid oder ethischer Pflicht, als Gegenbeispiel herangezogen. Aber dem so beschränkten homo œconomicus sind Handlungen aus Antipathie oder schlechter Gesinnung ebenso fremd. Der homo œconomicus teilt nicht nur nicht, er kennt auch keinen Neid noch Ranküne, welche einem Egoisten doch im Allgemeinen freistehen. Richtiger ist es mithin, von einem selbstbezogenen Akteur (self-regarding statt selfish) zu sprechen, der seiner Mitmenschen und seiner Umwelt ungeachtet der Maxime der Nutzenmaximierung folgt.21
2.2.3 Nutzen und subjektiver Wertbegriff
Die Nutzenmaximierung ist eine zugleich subtile und vollkommen platte Forderung an den homo œconomicus. Letzteres, weil sie sich in der ökonomisch relevanten Situation der Distribution von Gütern in ein einfaches »mehr ist mehr« übersetzt:
5. Nicht-Sättigungsannahme: Größerer Konsum bringt dem homo œconomicus höheren Nutzen.
Der Akteur wird immer nach einer größeren Menge eines Gutes streben und die größere Menge der kleineren vorziehen. Gleichwohl ist der Nutzen nicht einfach der konsumierten Menge des Gutes proportional. Mit wachsender bereits vorhandener Gütermenge in seinem Besitz wird er insbesondere aus jedem neu hinzutretenden Stück einen geringeren Nutzen ziehen (Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen).
Dieser subjektive Begriff des Nutzens, insbesondere des Grenznutzens, macht auch den Kern der neoklassischen Werttheorie aus (wie wir in Kürze genauer sehen werden). Wert, so könnte man sagen, wird nicht als etwas Objektives, vom Willen des Akteurs Unabhängiges betrachtet, sondern mit seiner ›Wertschätzung‹ in Zusammenhang gebracht.
Damit kommen wir zu der subtileren Seite der Nutzenmaximierung und des Wertbegriffs. Der subjektive Wertbegriff weist in der Tat eine Besonderheit auf, die sehr merkwürdig ist, weil man nicht so recht weiß, ob sie eine Stärke oder nicht vielmehr doch eine Schwäche darstellt. Es ist dies die Besonderheit, etliche Faktoren integrieren zu können. Die Stärke liegt darin, dass er auch suspektere Regungen des Akteurs wie Neid oder Zuneigung integrieren kann. Ganz gleich, wie kompliziert und kapriziös die Präferenzstruktur eines gegebenen Individuums geartet sein mag, die gesamte Palette seiner Einstellungen kann in den subjektiv gefassten Begriff des Werts integriert werden. Bietet er auf einer Auktion nur, weil er weiß, dass dies einen Nebenbuhler ärgern wird, so ist damit gleichwohl eine ökonomische Tat vollzogen, die den Preis beeinflussen wird und somit in den Wert eingeht, nicht aber in einer psychologischen Extratheorie behandelt werden muss. Wie wir allerdings schon sahen, werden dem homo œconomicus diese suspekten Neigungen untersagt. Seine Entscheidungen sind unabhängig vom Kontext, insbesondere von den konkurrierenden Akteuren und ihren Gütern.
Aus zwei Gründen, die beide für die Kritik der Neoklassik relevant sind, mag sich diese Stärke freilich als Schwäche entpuppen. Zum einen liegt in dieser integrativen Theorie die Gefahr einer Trivialisierung im Sinne einer empirischen Entleerung. Wir werden dies später in der Diskussion des Präferenzbegriffs genauer sehen (↓ 3.1.2, S. 54). Zum anderen unterbindet dieser Ansatz jede Möglichkeit, zwischen ökonomischem und anderem, nicht-ökonomischem Wert