Das Bild des weltabgewandten und etwas naiven Liebhabers mathematischer Modelle mag freilich selbst irreführend sein, da die Ökonomen sehr wohl eine sehr konkrete Rolle in der wirklichen Welt spielen. Wenn sie die Kurbel ihrer komplizierten formalen Modelle drehen, weiß man schon vorher mit vollkommener Sicherheit, welches das Ergebnis sein wird: dass nämlich allein der freie, unregulierte Markt zu einem optimalen Ergebnis führen wird. Jeder Eingriff wird relfexartig abgewehrt, sei dies nun der Mindestlohn, Umweltschutzauflagen oder das Wirken von Gewerkschaften. Joseph Stiglitz hält seinem Fach kurzum vor, als »cheerleader des laissez-faire-Kapitalismus« zu wirken.5
Das Konzept ›Wirtschaft im Kontext‹
Ökonomen, die in der harten Auseinandersetzung mit Fakten, Modellen und Kollegen befasst sind, wie sie den Alltag des wissenschaftlichen Arbeitens ausmacht, mögen diese Darstellung für eine Karikatur halten. Vor allem werden sie sich wohl nicht von einem Philosophen, der nichts als Einsichten aus zweiter Hand zu bieten hat, die Grundlagen ihrer Arbeit für nichtig erklären lassen wollen.
Dies ist aber auch nicht die Absicht des vorliegenden Buches. Diesem Buch liegt vielmehr die Beobachtung zugrunde, dass die Wirtschaftswissenschaften heute in der Forschung und vielleicht auch in der Lehre allmählich in Bewegung geraten. Zahlreiche alternative Ansätze sind aufgetaucht und haben sich teilweise sogar schon institutionalisiert. Sie umfassen die ökologische Ökonomie, Neue Institutionenökonomie, eine historische Makroökonomie, feministische Ökonomie sowie Ansätze unter Einbeziehung aktueller Forschungsergebnisse anderer empirischer Humanwissenschaften (behavioral economics, neuroeconomics, evolutionary economics). Das vorliegende Buch setzt an dieser Vielheit von Alternativen an und versucht sich über sie ein Bild der Wirtschaftswissenschaften in ihrer Eigentümlichkeit zu machen. Es handelt sich also nicht um eine Kritik der Orthodoxie, sondern um eine philosophische Lektüre der Heterodoxie. (Dass sich eine solche Lektüre heute geradezu aufdrängt, werden wir gleich sehen.)
Die hier übernommene Rede von »Orthodoxie« und »Heterodoxie« hat sich in den vergangenen Jahren zwanglos herausgebildet. Wenngleich sie einen Aspekt des heutigen Feldes der Ökonomie treffend beschreibt, so muss dennoch eingeräumt werden, dass sie zumindest in der Anwendung auf einzelne Personen irreführend sein kann. Zu den wichtigsten Gewährspersonen für heutige heterodoxe Ökonomen gehören Autoren wie Kenneth Arrow, Wassily Leontief oder Amartya Sen – allesamt Träger der »Alfred-Nobel-Gedächtnismedaille für Wirtschaftswissenschaften« (um einmal korrekt zu benennen, was sodann auch in diesem Buch streng genommen unrichtig »Wirtschaftsnobelpreis« heißen wird). Nimmt man den Wirtschaftsnobelpreis zum Maßstab, so definieren diese »heterodoxen« Ökonomen geradezu, was als »orthodox« zu gelten hat, womit man den Widersinn dieser Klassifizierung erkennt. Bezieht man die Rede von »Orthodoxie« und »Heterodoxie« aber vielmehr auf Positionen, so lässt sich durchaus ein orthodoxer Kern der Neoklassik identifizieren, der von heterodoxen Positionen infrage gestellt wird.
Die Grundthese des Buches, welche auch seinen Aufbau bestimmt, lautet, dass die hier als Heterodoxie zusammengefassten vielen, zumeist unabhängig voneinander formulierten Kritiken und Alternativen ebenfalls einen gemeinsamen Kern haben: Aus je anderer Perspektive hinterfragen sie die Grundannahme, dass der Wirtschaftsprozess ein autonomer Prozess sei. Gegenüber dieser Vorstellung wird von den Kritikern geltend gemacht, dass der Wirtschaftsprozess vielmehr in verschiedener Hinsicht in die Welt eingebettet ist: der Marktakteur ist eingebunden in eine soziale Welt mit Mitmenschen, Institutionen und gemeinschaftlich genutzten Ressourcen; Produktion, Distribution und Konsumtion von Gütern sind in die physische Welt eingelassen (sogar an die Geltung der Naturgesetze mussten sich die Ökonomen bisweilen erinnern lassen!) und in eine endliche Natur, deren Ressourcen an Rohstoffen und Kapazitäten zur Aufnahme von Gift und Müll erschöpft werden können; der Lebens- und Reproduktionsprozess der Gesellschaft ist nur zum Teil marktförmig organisiert und hängt teilweise von nicht-marktförmigen organisierten Tätigkeiten ab (Familie, Erziehung, Pflege, Kultur …); das gesamte Wirtschaftsgeschehen fügt sich in eine globale Geschichte ein, findet also in einer bestimmten globalen Konstellation statt (in welchem sich zum Beispiel Zentrum und Peripherie unterscheiden lassen), hat Teil an großen globalen Veränderungen (wie beispielsweise der Urbanisierung), unterliegt kontingenten politischen Einflüssen und bringt selbst solche hervor.
Der Wirtschaftsprozess ist – so der sich abzeichnende Konsens der Heterodoxien – in andere Prozesse eingebettet, mit welchen er also Grenzflächen ausbildet. Diese Grenzen werden in beide Richtungen übertreten, der Außenraum bedingt und beinflusst den Wirtschaftsprozess ebenso, wie dieser auf jenen gestaltend zurückwirkt. Der zentrale Begriff dieses Buches wird daher der der Grenze sein. Aus wissenschaftsphilosophischer Perspektive interessiert uns, was an einer solchen Grenze passiert und welche begrifflichen Ressourcen man dementsprechend benötigt, um dieses Geschehen adäquat zu beschreiben.
Abb. 1: Wirtschaft im Kontext.
Drei Antwortmöglichkeiten auf diese Herausforderung können wir a priori unterscheiden: (1.) dass der ökonomische Prozess sehr wohl unabhängig von anderen (sozialen und im engeren Sinne natürlichen) Prozessen abläuft, (2.) dass zwar eine Abhängigkeit besteht, aber die jeweiligen Außenräume adäquat im ökonomischen Vokabular erfasst werden können, insbesondere durch den Begriff des ökonomischen Werts, (3.) dass eine Abhängigkeit besteht und diese an jeder Grenze ein entsprechendes Vokabular erheischt. Die letzte Antwort kann noch einmal dahingehend nuanciert werden, ob das klassische Vokabular der Ökonomie nur um neue Elemente (wie z. B. Endlichkeit, Machtverhältnisse etc.) angereichert oder sogar in seinem Kernbestand ersetzt werden muss. Die ›Grenzen‹, von denen wir sprechen werden, sind somit beides: erst einmal wirkliche, materielle und kausale Grenzen eines Realprozesses, dann aber auch Grenzen von Begriffen, deren Untersuchung die Aufgabe der Philosophie in der Form ist, wie sie Immanuel Kant gestellt und auf den Namen der Kritik getauft hat.
Die Grundfrage, die sich heute in den Wirtschaftswissenschaften akut stellt und welche der Philosoph eigentlich bloß mehr auflesen denn selbst herausarbeiten muss, lautet daher: Welches ist eigentlich das richtige Grundvokabular, um den Wirtschaftsprozess als integrierten Teil des gesellschaftlichen Lebensprozesses adäquat fassen zu können? Dieses Grundvokabular zu gewinnen, verlangt ›Arbeit am Begriff‹, und diese werden wir in diesem Buch studieren. Wir sehen damit insbesondere, dass die zumeist in der Philosophie der Wirtschaftswissenschaften gestellten, aus der Philosophie der Physik übernommenen Fragestellungen nach Modellen, Experimenten, Erklärungen usw. zwar nicht verfehlt, aber doch verfrüht sind. Es ist nämlich die grundsätzlichere Frage noch ungeklärt, welches im Prinzip das richtige Vokabular für die Wirtschaftswissenschaften ist.
Ökonomie – deskriptiv oder normativ?
Wir werden es zuförderst also mit der Untersuchung von Begriffen zu tun haben, wie es ja für eine wissenschaftsphilosophische Perspektive auch nicht überraschen kann. Es sollte aber gleich an dieser Stelle gesagt werden, dass es die Begriffe und Thesen der Ökonomen der philosophischen Analyse etwas schwer machen, da sie die Eigentümlichkeit haben, im Diskurs zu ›schillern‹. Man weiß nie ganz genau, ob man es mit einem deskriptiven, beschreibenden, oder normativen, politisch-fordernden Diskurs zu tun hat. Dies ist eine Folge des oben beschriebenen ›schmutzigen‹ Charakters der Ökonomie, d. h. der merkwürdigen Tatsache, dass ihre ›Atome‹, die Individuen, sich als frei verstehen und somit Gegenstand zugleich von Deskriptionen (Beschreibungen) und Präskriptionen (Vorschriften) sein können.
Wir werden sehen, dass die moderne Volkswirtschaftslehre von Anfang an mit dem Problem befasst war, den Freihandel nicht nur zu untersuchen, sondern auch zu rechtfertigen. Gleiches gilt freilich für die kritischen Stimmen. Die Schöpfer der Ökologischen Ökonomie wollten nicht nur besser verstehen, was der Mensch im Wirtschaften tut, sondern wollten die Umwelt auch wirklich schützen (Kapitel 4).