Wirtschaft im Kontext. Oliver Schlaudt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Schlaudt
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Афоризмы и цитаты
Год издания: 0
isbn: 9783465242642
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nahe, seine Bedürfnisse als gegeben zu betrachten (als »exogene Variable«, wozu später mehr), und neigt drittens dazu, den Wirtschaftsprozess auf den Markt als Mechanismus der effizienten Ressourcenallokation zu reduzieren. Es wird zu überlegen sein, ob nicht eher der Fokus auf den gesamtgesellschaftlichen Prozess zu legen ist, wobei insbesondere die Offenheit gegenüber der Umwelt nicht verdeckt werden sollte.

      Einige Autoren schlagen in diesem Sinne wieder vor, vom Wirtschaftsprozess als dem gesellschaftlichen »Metabolismus« (Stoffwechsel) zu sprechen, wie dies etwa für Karl Marx selbstverständlich war.12 Diese Redeweise beutet eine biologische Analogie aus, die es erlaubt, bestimmte Merkmale des Wirtschaftsprozesses hervorzuheben, die er mit dem Organismus teilt: in beiden Fällen hat man es mit einem offenen, dynamischen und selbstregulierenden System zu tun. Der ›Lebensprozess‹ der Gesellschaft besteht darin, unter gegebenen Ressourcen und technischen Möglichkeiten seine wesentliche Struktur im Stoffwechsel mit der Umwelt selbstorganisiert zu reproduzieren. Ein anderer Autor erwägt, von der Wirtschaft allgemeiner als einem »autopoietischen System« zu sprechen, was es erlaubt, auch die Unterschiede zu benennen, welche die Wirtschaft vom biologischen Organismus trennen. Anders als bei diesem beruht der Organisationsmodus des Wirtschaftsprozesses beispielsweise auf kommunikativen Prozessen und zweckhaften Handlungen der Individuen.13

      Dieser weitere Begriff des Wirtschaftens bietet die Möglichkeit, auch eine Einwirkung der kollektiven Prozesse auf die Bedürfnisse der Individuen zu erfassen (sprich die Bedürfnisse als »endogene« Variable zu behandeln), was sich als nützlich und vielleicht sogar erforderlich erweisen wird.

      Die klassisch unterschiedenen wirtschaftlichen Aktivitäten umfassen die Produktion, die Distribution, insbesondere den geldvermittelten Tausch, sowie die Konsumtion der Güter. Fließen die Güter und andere Faktoren wieder in die Produktion ein, statt konsumiert zu werden, spricht man von Allokation statt von Distribution. Neben diesen klassischen Aktivitäten werden heute auch der Umgang mit den Ressourcen und den Abfällen betont. Die wirtschaftlichen Akteure umfassen neben Privatpersonen oder Privathaushalten auch Unternehmen, Regierungen und Zentralbanken, aber auch die teilweise äußerst mächtigen Kapitalgesellschaften.14

      2.1.2 Wirtschaftswissenschaft

      Halten wir uns an das Selbstverständnis des Fachs, können wir vorab folgendes über die Wirtschaftswissenschaften sagen. Die Wirtschaftswissenschaften zerfallen in die beiden Teildisziplinen der Betriebswirtschaftslehre (business administration), welche die Entscheidungsprozesse in Unternehmen zum Gegenstand hat, und die Volkswirtschaftslehre (economics), älter Nationalökonomie oder auch Politische Ökonomie, die in der Hauptsache die Produktion und Distribution bzw. Allokation von Gütern untersucht. Wie auch der englische Name anzeigt, entspricht sie am ehesten dem, was man gemeinhin unter einer Erforschung der Wirtschaftszusammenhänge versteht. Sie ist es, die uns in diesem Buch interessieren wird.

      Die Volkswirtschaftslehre zerfällt grosso modo in die beiden Teilgebiete der Mikro- und Makroökonomie (bzw. -ökonomik). Erstere setzt bei den verschiedenen Wirtschaftssubjekten an, während sich die Makroökonomie den gesamtwirtschaftlichen Prozessen widmet und dabei auf gesamtwirtschaftliche Größen wie die der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zurückgreift. Bruttonationalprodukt, Arbeitslosenrate, Inflationsrate sind typische makroökonomische Größen. Ein Teilgebiet der Mikroökonomie, welches für uns von besonderem Interesse sein wird, stellt die Wohlfahrtsökonomie (welfare economics) dar, welche die Auswirkungen der mikroökonomischen Variablen auf die ökonomische Wohlfahrt der Gesellschaft untersucht. Die Geldtheorie (monetary economics) hingegen, welche ebenfalls bisweilen die Aufmerksamkeit von Philosophen auf sich gezogen und im Zuge der Finanzkrise, beispielsweise mit David Graebers einflussreichem Buch Schulden15, auch ein allgemeineres Interesse geweckt hat, gehört in die Makroökonomie:

      Mikro- und Makroökonomie untersuchen wohlgemerkt nicht im Sinne einer Arbeitsteilung unterschiedliche Gegenstände, sondern betrachten vielmehr denselben Gegenstandskreis aus unterschiedlichen Perspektiven, eben vom ›Kleinen‹ und vom ›Großen‹ her. Dies kann Spannungen erzeugen. Während die Mikroökonomie beispielsweise Arbeitslosigkeit als Folge einer Abweichung von der Norm des idealen Marktes versteht, besteht in der Makroökonomie eine viel größere Bereitschaft, dieselbe als empirisch konstatierte Normalität zu begreifen.16 Zum Konflikt kommt es dadurch, dass es dem reduktionistischen Programm der Mikroökonomie eingeschrieben ist, auch makroökonomische Phänomene auf Interaktionen auf mikroökonomischer Ebene zurückzuführen. Dieses Programm wird Mikrofundierung genannt. Auf die mit ihm einhergehenden Probleme werden wir zurückkommen.17

      2.2.1 Vorab: Was ist eine Erklärung?

      Betrachten wir nun, wie die Mikroökonomie ökonomische Prozesse zu erklären sucht. Ohne uns vollends auf die schwierige und kontroverse philosophische Frage einlassen zu müssen, was eigentlich eine Erklärung ist, können wir zumindest festhalten, dass, sprachphilosophisch ausgedrückt, »Erklärung« ein (mindestens) zweistelliger Prädikator ist. Obgleich man oft von der »Erklärung des Phänomens y« spricht, lautet der vollständigere Ausdruck eigentlich: »x ist eine Erklärung für Phänomen y« bzw. »Phänomen y wird durch x erklärt«. In dieser Struktur stecken zwei Vorentscheidungen, die den Raum der Erklärung aufspannen: Erstens muss man sich darüber einig sein, was überhaupt einer Erklärung bedarf und was nicht (das ›y‹), und zweitens muss festgelegt sein, was als Erklärung gilt (das ›x‹). Aristoteles beispielsweise betrachtete es als natürlich und somit nicht erklärungsbedürftig, dass Dinge an ihren »natürlichen Ort« streben, also schwere Dinge zur Erde fallen, die Gestirne aber in der ihnen angestammten Sphäre verharren. In der klassischen Physik Newtons hingegen wird es als natürlich betrachtet, dass ein Körper weder die Richtung noch den Betrag seiner Geschwindigkeit »von selbst« ändert, und erst Abweichungen davon verlangen der Erklärung. Als Erklärungen, etwa wenn Planeten im Weltraum auf eine elliptische Umlaufbahn gezwungen werden, werden »Kräfte« akzeptiert, auch wenn deren Ursprung wie eben bei der Gravitation vorerst ungeklärt ist.

      Wir können daraus zurückbehalten, dass immer ein Phänomen, z. B. eine Eigenschaft, durch etwas anderes erklärt wird, welches selbst zumindest zeitweilig ohne Erklärung hingenommen wird. Wie Immanuel Kant schon herausgearbeitet hat, ist es dem Projekt der wissenschaftlichen Erklärung inhärent, auf einen infiniten Regress zu führen, insofern das x, welches man zur Erklärung von y heranzog, selbst nach Erklärung verlangt. Mit diesem Problem hat jede Wissenschaft zu tun, und man darf die Wirtschaftswissenschaft selbstredend nicht an einem Maßstab messen, dem auch die Physik nicht genügt. Jede Wissenschaft muss zu jedem Zeitpunkt mit gewissen Voraussetzungen beginnen. Diese können sich freilich mit der Zeit ändern, und es bleibt in der Methodenkontroverse immer eine legitime Frage, was eigentlich wodurch erklärt werden soll, sofern nur alle Kontrahenten akzeptieren, dass es keine voraussetzungslose Erklärung gibt.

      Das klassische Erklärungsmodell der Physik besteht in einem bestimmten Reduktionismus: Die Eigenschaften eines Systems werden durch die seiner Teile erklärt und in diesem Sinne auf diese zurückgeführt, niemals aber umgekehrt. Die Eigenschaften des Festkörpers und der Moleküle erklärt die Physik durch die Eigenschaften der Atome und diese durch die ihrer Bestandteile, der Elektronen und des Atomkerns. Die Elektronen gelten als Elementarteilchen, während der Atomkern wiederum eine Struktur aufweist und aus Protonen und Neutronen besteht usw.

      Ein Problem war diesem ›mechanistischen‹ Denken schon früh, namentlich im 18. Jahrhundert, durch den Organismus gegeben, bei dem sich die Verhältnisse gerade umgekehrt darzustellen scheinen: Seine Organe sind für den Organismus zweckdienlich eingerichtet. Hier scheint es so, als ob durch das System, das Lebewesen, bestimmt ist, welche Eigenschaften seine Teile haben müssen und diese somit ›holistisch‹, durch das Ganze, welches die Teile bilden, erklärt werden.18 Es war die große Leistung von Darwins Evolutionstheorie, die Mechanismen zu benennen, die die Zweckmäßigkeit der Teile erklären können, ohne einen