Mit einem Wort, ich bin nicht zurechnungsfähig. Aber zum Glück kann ich meine Schnauze halten, denn anderenfalls hätte man mich schon irgendwo an die Wand gestellt. An letzterem Verfahren bin ich allerdings nicht nur einmal knapp vorbeigeschrammt, denn nicht immer konnte ich mein Mundwerk im Zaum halten. Bloß, die Zeiten können den Stimmbändern jede Kraft rauben, denn die medizinische Wissenschaft weiß seit Langem, dass zum Betätigen der Stimmbänder es der Luft der Lunge bedarf, und gerade Letztere kann zur Mangelware werden. Dies aus verschiedensten Gründen, derer einer sein kann: der Lungenschuss, oder sein kann: das Gasfeld ohne Gasmaske, weiters sein kann: die sechzehn Jahre Arbeitslager, darüber hinaus immer wieder sein kann: der jahrelange Kriegszustand der Weltvölker.
Manchmal will man auch schweigen, will man keinen Laut von sich geben. Zum Exempel nehme ich mich selbst. Ich will nicht viel reden und somit auffällig sein, denn ich habe Dreck am Stecken. Ich habe gar keine blütenweiße Weste. Ich muss sogar die Schnauze halten, denn ich bin ja seit Kurzem ein Agent des Feindes, ein schamloser Vaterlandsverräter. Wenn es denn jemals dazu kommen sollte, dass Schachner, oder vielmehr Grillparzer, mir eine streng geheime Nachricht unter das Kopfkissen legt. Nun, vielleicht gelingt es Schattennacht, eine Information für die Russen zu beschaffen, die den Krieg entscheiden könnte. Etwa, dass der alte österreichische Kaiser unter der Uniform buntscheckige Unterhosen trägt. Etwas wirklich Wichtiges also. Ich bin so verbittert, hungrig und einsam. Ich lebe in einem Drecksloch und genau so fühle ich mich.
Novemberdepression.
OSTFRONT, MAI 1915
Aufmarschraum 3. Bataillon. Und trockenes Wetter. Die Frühlingsregen haben sich längst verzogen, der Boden ist trocken und fest. Das ist ein schlechtes Zeichen.
Pepi lutscht fast seine Zigarette. Heiß glüht der Glimmstängel an seinen Lippen. Ich habe jetzt zum fünften Mal in einer halben Stunde in den Graben uriniert. Jedes Mal ein paar Tropfen, dann wieder stocken, noch ein paar Tropfen und wieder stocken. Aber der Druck auf der Blase lässt nicht nach. Finsternis umhüllt unsere Köpfe, Finsternis in den Augen, aber wir wissen, es wird bald Tag, die Sonne will den zweiten Tag des Monats Mai hell erleuchten. Gutes Wetter, gutes Wetter, immer wieder hört man die Leute sagen: gutes Wetter. Miserables Wetter, Wetter zum Sterben. Oberleutnant Zillner taumelt durch den Schützengraben, drängt sich an stinkenden Leibern vorbei. Ich stinke auch wie ein Schwein. Und ich muss schon wieder meine Blase entleeren. Alfreds Schulter stemmt sich schon seit einer Stunde gegen die meine. Oder umgekehrt? Alfred, Alfred, was soll ich ohne dich machen? Du darfst nicht fallen, du nicht, ohne dich bin ich verloren und hilflos.
Oberleutnant Zillner taumelt in die andere Richtung zurück. 3. Bataillon bereit. Noch fünf Minuten. Er hastet hinüber zum 1. Bataillon, das rechts neben uns steht. Meldung machen. 3. Bataillon bereit. Noch vier Minuten bis zur Offensive. Wissen die Russen Bescheid? Was gäbe ich, wenn ich jetzt in Neusandez Kartoffel schälen könnte? Alles, was ich besitze. Mein Leben? Nein, mein Leben nicht, das brauche ich heute noch. Flüsternd fliegt ein Wort durch die Reihe der kauernden Soldaten, die schlafen sollten, um bei Tagesanbruch bei vollen Kräften zu sein, aber niemand konnte in dieser Nacht schlafen. Der dumme Otto drängt sich immer in Pepis Nähe. Pepi strahlt Sicherheit aus, er hat Nerven, er bewahrt einen kühlen Kopf, auch wenn er Zigaretten übermäßig heiß raucht. Wieder und wieder geistert ein Wort durch die Schützengräben. Trommelfeuer. Eine deutsche Erfindung, so sagt man, von der Westfront mitgebracht. Melde gehorsamst, Herr Kaiser, die k. u. k. 4. Armee wartete noch zwei Minuten auf das Trommelfeuer. Etwas südlich von uns stehen die deutsche 11. Armee und hinter uns ein paar österreichische und sehr viele deutsche Kanonen. Und Minenwerfer. Und Reserveregimenter. Und Trains. Und Sanitätsbataillons. Und vorgeschaufelte Leichengruben. Volles Marschgepäck, volle Patronentaschen und volle Hosen, so stehen sie da, die Helden des großen Krieges. Wo bleibt die Zeit? Ich will noch eine Zigarette. Alfred steckt sie mir zwischen die Lippen, bloß weil ich ihn anschaue. Er kann Gedanken lesen, so viel ist gewiss.
Trommelfeuer.
Hunderte schwarze Schlünde speien dunkelrotes Feuer und beißend-schwarzen Qualm. Das Feuer wirft Eisen vor sich her, kilometerweit. Die schwarzen Schlünde brüllen. Die Bestie tobt. Die einzelnen Schreie der Bestie verschwimmen ineinander und es wird ein unablässiges, gewaltiges Tosen. Über unsere Köpfe hinweg schneiden spitze Eisenklumpen blutende Löcher in die Luft. Ich höre und sehe nichts davon, aber das Vibrieren der Luft spüre ich. Dann fällt das Eisen, es fällt und fällt und fällt hundertfach auf einen Streich. Und nun das Brüllen der Erde. Ja, die Erde brüllt gequält, als das Eisen sich in sie bohrt. Das Schießpulver reißt der Erde elefantengroße Fetzen aus der Haut. Die Erde heult. Flammen, grelle Blitze, unablässig hämmert glühendes Eisen auf die Erde. Von hinten dröhnt das Donnern der Geschütze, von vorne das Krepieren der Granaten. Schweres Feuer, schweres Feuer. Ich bohre meine Stirn in die Erde, ich quetsche meine Wange an die Grabenwand. Ich muss mich entleeren, schnell, sonst geht es in die Hose. Dabei kriegen die Russen das Feuer, nicht wir. Ich dränge schnell den Gedanken weg, selbst unter solchem Feuer zu liegen. Nein, nicht so etwas denken. Ich uriniere, dabei bin ich schon völlig entwässert. Alfred hält sich die Ohren zu, aber es nützt nichts, das Tosen ist zu gewaltig. Oberleutnant Zillner drängt sich wieder durch den Graben. Wir atmen etwas durch. Dieser Mann lässt uns nicht im Stich, er wird uns führen, wir vertrauen ihm. Den Major und den Oberst sollen von mir aus die Geier fressen, aber für Oberleutnant Zillner gehen wir ins Gefecht.
Die Parole wird ausgegeben. Vier Stunden Trommelfeuer.
Noch vier Stunden dieses Wüten der gigantischen Bestie. Blutgeifernd und tödlich. Moderne deutsche Artillerie schießt nicht ziellos in die Gegend, sondern nach genauen Plänen. Die deutsche Artillerie schießt nach Vorschrift. Die Granaten pflügen drüben auf der anderen Seite der Front den Boden um. Der eiserne Pflug des großen Krieges, vor Hunderte Kanonenrohre gespannt und von Tausenden Marionetten in grauen Uniformen vorangepeitscht, furcht die Erde auf der Suche nach Menschenfleisch. Da wird der Pflug fündig, das ist schön, dort kann er Knochen zermörsern, Arterien zerfetzen und das dampfende Fleisch in den Boden wühlen. Vielleicht gedeiht ja dereinst daraus eine neue Saat. Blutsturz auf Erden.
Ich glaube, ich habe Fieber gekriegt. Von einer Sekunde auf die andere. Ich zittere schon. Ich will nach Hause. Pepi rempelt mich an. Ich blicke in die Richtung, in denen ich seine Augen vermute. Pepi ist ein guter Soldat, vielleicht der beste unseres Regiments. Pepi soll General werden und Oberleutnant Zillner Armeeoberkommandant.
Das Brüllen nimmt kein Ende, immer weiter, immer weiter, aus Hunderten Granaten werden Tausende, aus Tausenden werden Zehntausende. Die Flammen der Welt gebündelt auf ein paar zerfurchte Wiesen in Galizien. Die Sonne geht auf und steigt hoch und höher. Sie rümpft erschrocken die Nase. Was soll das Gepolter in diesem Erdteil? Ja gibt’s denn so etwas, so ein Wirbel. Und dennoch schaut sie auf das irre Gewühl herab. Neugierig? Mit krankhaftem Vergnügen? Da, ein paar Einschläge direkt vor unserem Graben. Schießt die deutsche Artillerie so schlecht? Nein, das sind russische Granaten, vier, fünf, sechs Einschläge, mehr nicht. Sechs Granaten gegen zehntausend. Dort, russisches Schrapnell. Drei, vier weiße Wolken im Himmel und danach der Eisenregen. Ungefährlich, denn die Russen schießen ungenau und wir hocken mit eingezogenen Köpfen in den Schützengräben. Das ist keine Gegenwehr, das ist Verzweiflung. Die Granaten heulen und fauchen, pausenlos ziehen sie ihre Bahnen im Himmel und drängen zur Erde. Die Bestie schlägt ihre Reißzähne in die Flanke des Opfers. Wir sind blinde Tiere,