Der blinde Spiegel. Günter Neuwirth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Günter Neuwirth
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783990402504
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hassen Otto Drabek. Fünfunddreißig Kilometer Eilmarsch mit vollem Marschgepäck und dann noch Strafexerzieren und nur eine halbe Portion zu fressen. Was können wir dafür, dass er ein Idiot ist? Und am Baum hängt ein Kerl von fast neunzig Kilogramm strammer Muskeln und starker Sehnen und heult die ganze Nacht hindurch wie ein kleines Kind. Wäre ich nicht vor Erschöpfung der Bewusstlosigkeit nahe, hätte ich auch geheult. Oder Otto abgestochen. Das Bajonett in den Bauch, nicht in die Rippen. Mit so einem Mann muss ich an der vordersten Linie stehen. Danke lieber Herrgott, dass es regnet und die Russen sich nicht rühren.

      Mühsam strecke ich meine Glieder und blicke kurz in Alfreds trübe Augen. Wann kommt endlich die Ablösung? Und wann kommt die Offensive? Bis auf Gewehrduelle und seltene Granatenüberfälle ist die Lage stabil, wie die alten Hasen sagen: ruhig. Aber irgendetwas ist im Gange, so viel ist gewiss. Die Deutschen kommen nämlich. Feldgraue Uniformen mischen sich nach und nach unter die hechtgrauen. Immer mehr preußische, schwäbische und sächsische Regimenter gruppieren sich neben Wiener, Budapester, steirischen und mährischen Regimentern. Und Artillerie kommt heran, unablässig kommt Artillerie heran. Tross um Tross. Merken die Russen drüben etwas davon? Weiß ich nicht, keine Ahnung. Und geschanzt wird, noch ein Graben und noch ein Graben, dort ein Verbindungsgraben. Die Deutschen bringen neuen Schwung.

      Zuerst die schweren Niederlagen im Sommer und Herbst letzten Jahres, dann der tödliche Winter, der Fall Przemyśls, die russische Dampfwalze drohte Österreich-Ungarn schon zu überrollen. Aber jetzt kommen die Deutschen. Man merkt, dass die Leutnants, Hauptmänner und Majore der preußischen Infanterieregimenter anders sind als die österreichischen. Nicht so überheblich, nicht so tyrannisch, nicht so launenhaft, nicht so unberechenbar, sondern diszipliniert, streng und hart. Gut, auch die Deutschen haben ihre Idioten und wir auch Führer, die von den Leuten respektiert werden, etwa Oberleutnant Zillner, aber insgesamt ist für uns einfache Soldaten da ein deutlicher Unterschied sichtbar. Und die Artillerie, die die Deutschen bringen! Aber auch unsere Artillerie ist beachtlich. Beim Anmarsch zum gegenwärtigen Grabendienst sind wir an einer Batterie vorbeigekommen. Ungarische Artilleristen haben geschaufelt und geschaufelt, um die Skoda-Kanonen in Stellung zu bringen. Vier 10,4-cm-Kanonen, mit denen man bis in die russischen Reservestellungen feuern kann, und drei fette 15-cm-Feldhaubitzen. Modernste österreichische neben modernster deutscher Artillerie. Wissen die Russen, was da kommen wird? Wir marschieren an den ausgeschanzten Artilleriestellungen vorbei und sehen, wie deutsche Artilleristen kleines Gerät postieren. Neuartige Minenwerfer, die neben den Kanonen wie läppisches Spielzeug aussehen. Wir lachen über diese mickrigen Waffen.

      Ruhe vor dem Sturm. Zumindest nachts. Tagsüber tacken die Maschinengewehre. Immer dieses nervtötende Pfeifen, wenn einem die Kugeln um die Ohren fliegen. Meine Feuertaufe war aus größerer Perspektive gesehen ein nebensächliches Scharmützel, aber ich habe mir das Mark aus den Knochen geschwitzt. In den Morgenstunden hat eine russische Granate einen Essenholer zerschmettert, woraufhin ein paar unserer Männer einen schlecht postierten Russen unter Feuer genommen und erschossen haben, woraufhin die drei uns gegenüberliegenden russischen MGs Feuer spien, woraufhin unsere gesamte Besatzung der vordersten Linie das Feuer eröffnet hat und woraufhin die Russen all ihre Gewehre abgefeuert haben. Ich dazwischen, mitten in der Meute. Pepi neben mir reißt sein Gewehr hoch und wirft sich an die Brustwehr. Er schießt und schießt, ein Magazin und noch ein Magazin. Dann wird die Luft um ihn zu dick, Gewehrkugeln prasseln auf uns nieder und ein MG schwenkt sich auf uns ein. Pepis Augen quellen hervor, er atmet kurz und stoßweise. Ich beobachte ihn, er nimmt mich nicht wahr, er nimmt überhaupt nichts wahr außer das Pfeifen, Krachen und dumpfe Pochen vorüberfliegender und in der Nähe einschlagender Kugeln. Ich zittere, wage nicht, mich zu bewegen und halte mein Gewehr schussbereit in der Hand. Auch ich verliere nach und nach jede Wahrnehmung, außer der von Kugeln bewegten Luft. Ich achte nicht mehr auf Pepi, ich höre nur mehr das Krachen der Gewehre. Das Feuer schwenkt weiter, die russischen Gewehre suchen ein neues Ziel, das MG spuckt anderswo Tod und Teufel. Wie auf ein Kommando schnellen Pepi und ich hoch, werfen uns an die Brustwehr, legen an und feuern ein paar Magazine leer. Dann wieder Deckung wegen des MGs. Und so geht es weiter, den ganzen Vormittag. Decken, horchen, ahnen, anlegen, feuern, decken, horchen und so weiter. Verwundete schleppen sich vorbei, meist Kopfschüsse. Walter, einer der wenigen, die den Winter überlebt haben, und der uns Neuankömmlingen viele gute Ratschläge gegeben hat, müht sich gebückt durch den Schützengraben. Sein Gesicht ist blutüberströmt. Mir schnürt es die Kehle zusammen, als ich ihn erkenne. So viel Blut. Er hält sich mit beiden Händen den Kopf. Dann stolpert er und stürzt auf die Knie. Ich starre auf die aufgeknackte Schädeldecke. Ich sehe ein winziges Stück der Oberfläche seiner Hirnhaut, sie scheint nicht beschädigt zu sein. Nur die Schädeldecke sieht entsetzlich aus, gesplitterte Knochenteilchen. Otto wirft sein Gewehr zu Boden, fasst Walter mit seinen prankenhaften Händen an, als jongliere er rohe Eier, hebt ihn mit einer ebenso überraschenden wie lächerlichen Vorsicht, fast sollte ich sagen Zärtlichkeit, hoch, lädt sich ihn auf den Buckel und trägt ihn nach hinten. Nach wenigen Minuten kommt Otto wieder, läuft durch den Graben, sammelt Verwundete auf und trägt sie davon. Bis am frühen Nachmittag das Gefecht an Heftigkeit verliert, hat Otto den Weg vom vorderen Graben zum Sanitätsplatz elf Mal zurückgelegt. Ausgepumpt, schweißüberströmt und von den Verwundeten blutverschmiert kauert er im Schützengraben. Angeblich soll Fähnrich Bleyer Otto eine Packung Zigaretten geschenkt haben.

      Wann endlich der Regen und diese Nacht ein Ende haben werden? Aber soll ich mir das tatsächlich wünschen? Besser die Nacht und der Regen bleiben, denn jetzt ist es still in Galizien, jetzt schweigen die Waffen und gestorben wird heute Nacht nicht. Wer weiß, was morgen ist?

      Irgendwann fallen mir meine Augen zu, doch ich schlafe nicht, andererseits bin ich auch nicht wach. Ich pendle trunken zwischen beiden Zuständen. Vielleicht fürchte ich diesen Dämmerzustand mehr als das russische MG, denn die Träume sind besonders klar, stark und einprägsam. Wieder und wieder sehe ich die Schneeschmelze. Die Schützengräben stehen voller Wasser und aus dem Schneematsch und dem zerbröselnden Firn lecken sich langsam und beharrlich bleiche Eisleichen. Starre Hautfetzen werden zusehends weicher und weicher, gefrorenes Blut tüncht Schmelzwasserpfützen rosarot und die kleinen Eisschollen auf den Augen der menschlichen Kadaver tauen. Man glaubt, die Toten weinen. In Wahrheit übergeben sich die noch lebenden Soldaten und versauen noch weiter die Schützengräben. Eines Abends rollte ich mich in den Mantel und schlief auf einem Schneehaufen ein. Nachts kam das Tauwetter und als ich am Morgen aufwachte, fand ich mich von ein paar Kameraden eng umschlungen. Bloß waren diese schon wochenlang erfroren im Schnee versteckt gewesen. Zwei Tage habe ich nach diesem Morgenerwachen weder essen noch schlafen können, zwei Tage war ich wie in Hypnose und sah in den Augen der lebenden Kameraden schon deren Tod. Ich kann mich erinnern, dass Oberleutnant Zillner mich besorgt gemustert hat. Und ich habe nur an die Spannweite der Backenknochen seines Totenschädels denken können.

      Alfred stößt mich an und reißt mich aus dem Halbschlaf. Ich sehe, wie ein paar Männer gebückt den Graben hinabmarschieren. Menageträger für den Frühstückskaffee. Der Morgen graut und die Regenfälle verziehen sich langsam, aber sicher.

      KONSTANTINOPEL, FRÜHLING 1946

      Meyendorff strich sich mit den Fingern über das Kinn. Er nickte. Eine gute Rasur. Er zupfte am Ärmel seines Uniformrockes, aber an der Passform gab es nichts auszusetzen. Auf seiner Brust hingen seine Abzeichen. In den Jahren seines Dienstes hatte sich da einiges angesammelt. Natürlich wurden alle Abzeichen von der Goldenen Tapferkeitsmedaille übertrumpft, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er sich nur dieses eine Abzeichen auf die Brust geheftet. Aber der General war diesbezüglich unerbittlich, seine Soldaten hatten zu zeigen, was sie an Orden und Abzeichen so zu bieten hatten.

      Der Wagen rollte auf den bekannten Platz, Meyendorff hieß den Fahrer warten und stieg aus. Wieder überprüfte er seine Uniform. Sie war aufgebügelt und saß perfekt, er war also für die Matinee gewappnet. Eine Zigarette glühte zwischen seinen Fingern, er ging ein paar Schritte auf und ab, blickte auf die Uhr. Dann sah er einige Frauen aus dem Barackenlager treten. Kirchgängerinnen. Ein Lastwagen wartete bereits, um die Frauen zu einer der katholischen Kirchen Konstantinopels zu bringen.

      Die Sonne kletterte hoch. Zum Glück sorgte eine Brise für etwas Kühlung.

      Da