Der blinde Spiegel. Günter Neuwirth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Günter Neuwirth
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783990402504
Скачать книгу
war. Die Notwendigkeit, den gigantischen Verwaltungsaufwand des Krieges zu erledigen, bestimmte hier den Arbeitsrhythmus.

      Meyendorff blickte in den Gang, in dem er dem General auflauern wollte. Kirnbauer verspätete sich, normalerweise müsste er genau jetzt mit seinem Adjutantenstab hier entlangmarschieren. Nach Kirnbauer konnte man, wenn er ins Offizierskasino zum Mittagstisch ging, die Uhr stellen. Meyendorff wartete hinter einer Ecke. Ein schmalbrüstiger älterer Beamter trug ein Bündel Akten an ihm vorbei und lächelte. Er kannte diese Szene offenbar schon, ein jüngerer Offizier, der dem General auflauerte.

      Da kam er. General Kirnbauer. In Begleitung von zwei Ordonnanzoffizieren.

      Meyendorff trat schwungvoll hinter der Ecke hervor, direkt in das Blickfeld des Generals, überrascht hielt dieser inne, Meyendorff knallte vorschriftsmäßig mit den Hacken und salutierte stramm. Natürlich hatte er für diesen Auftritt seine goldene Medaille nicht vergessen. Prunkvoll glänzte sie auf seiner Brust. Der General salutierte lässig.

      „Sieh an, sieh an, Herr Oberleutnant. Bekommt man Sie endlich wieder zu Gesicht?“

      Der goldene Schein der Tapferkeitsmedaille bewirkte, dass der General stehen blieb und Meyendorff wohlwollend musterte.

      „Na, wie geht’s Ihnen so? Die Verletzungen kuriert?“

      Meyendorff roch die Fahne des Generals. Schon vor dem Mittagessen hatte er getrunken.

      „Danke der Nachfrage, Herr General. Ich bin wieder heil.“

      „Na, das wird aber auch Zeit. Sagen Sie mal, Herr Oberleutnant, wo haben Sie sich versteckt?“, fragte er und wandte sich seinem Adjutanten zu. „Da hat man nun einen echten Helden im Haus und kann sich gar nicht an seinem Glanz erfreuen, weil er sich im Mausloch versteckt.“

      Der General und seine Begleiter lachten.

      „Herr General, ich bitte Sie aufrichtig um Nachsicht. Tatsächlich hat mich meine Verwundung viel Substanz gekostet, und für mich als Frontoffizier war die Umstellung auf den Etappendienst nicht leicht.“

      Meyendorff ging forsch ins Gefecht, die alte Rivalität zwischen Front- und Etappenoffizieren war stets Anlass zu feurigem Disput. Der General spitzte seine Lippen und fixierte den vorlauten Oberleutnant.

      „Umso mehr freut es mich, Herr General, wenn ich Ihnen mitteilen darf, dass ich mich an meinem neuen Dienstposten Seiner Majestät Luftflotte eingewöhnt habe und mit großem Engagement meine Arbeit leiste.“

      Touché. Der General lächelte und klopfte Meyendorff auf die Schulter.

      „Bestens, Herr Oberleutnant, bestens. Wollten Sie ins Kasino? Begleiten Sie mich doch. Man sitzt gern mit einen feschen Helden an einem Tisch.“

      „Herr General, ich danke vorzüglich für die Ehre und schließe mich Ihnen gerne an.“

      Sie marschierten los.

      „Aber dass Sie sich überhaupt nicht haben blicken lassen, Herr von Meyendorff, hätte Ihrem Onkel, Gott hab ihn selig, gewiss Verdruss bereitet“, tadelte der General.

      „Tatsächlich ist mir mein Versäumnis peinlich bewusst, darum möchte ich in aller Bescheidenheit fragen, ob die Einladung zu Ihrer Sonntagsmatinee noch Gültigkeit hat?“

      Der General lachte jovial.

      „Na, was glauben Sie, mein Guter! Meine Frau macht mir seit Wochen die Hölle heiß, weil ich ihr unseren Helden noch nicht vorgestellt habe. Also, ich erwarte Sie um zehn Uhr. Und diesmal keine Ausreden. So, jetzt erzählen Sie mir einmal ganz genau, wie Sie durch die feindlichen Linien gekommen sind.“

      „Herr General, mit dem allergrößten Vergnügen, darf ich aber noch ein kleines Anliegen vorbringen?“

      Der General schaute ein wenig scheel. Ein geübter Blick, den er im Laufe seiner Karriere wohl Tausenden Bittstellern zugeworfen hatte.

      „Es wäre mir eine Ehre, nicht alleine zur Matinee erscheinen zu dürfen. Ich habe ein Fräulein kennengelernt, welches mir Ihnen vorzustellen eine Ehre wäre.“

      Der scheele Blick des Generals verflog, er lächelte süßlich. Das waren genau die Geschichten nach seinem Geschmack.

      „Darum will ich bitten, Herr Oberleutnant.“

      Jetzt hatte Meyendorff Kirnbauer so weit, jetzt hieß es, die Schlacht im Sturmlauf zu entscheiden.

      „Das junge Fräulein wohnt im Barackenlager Nord, und vielleicht ist Ihnen schon zu Ohren gekommen, dass dort sehr strenge Sitten herrschen. Ich fürchte, ich kann Ihnen das Fräulein nicht vorstellen, wenn Sie nicht Ihr gewichtiges Wort erheben.“

      General Kirnbauer nickte heftig.

      „Oh ja, Herr Oberleutnant, solche Klagen höre ich immer wieder, aber solange die Gräfin Almassy dort das Sagen hat, wird sich nichts ändern. Also, wie heißt das Fräulein?“

      „Clarissa Roth, Herr General.“

      Sie blieben stehen. Kirnbauer wandte sich an seinen Adjutanten.

      „Gruber, notieren Sie. Fräulein Clarissa Roth kriegt eine schriftliche Einladung für die Matinee am nächsten Sonntag. Und wenn die bocken, werde ich denen die Leviten lesen.“

      Er wandte sich an Meyendorff.

      „Sagten Sie Clarissa Roth? Ist das nicht die Tochter von Wenzel Roth, dem Industriellen? Herrgott, jetzt fällt’s mir wieder ein, der Herr Papa hat mir doch vor Wochen einen Brief geschrieben und das Kommen seiner Tochter angekündigt. So ein Schlamassel, die kleine Roth ist mir völlig entfallen.“

      Ernsthaft besorgt blickte er Hauptmann Gruber an.

      „Jud oder nicht Jud, der Roth ist ein treuer Diener des Kaisers. Gruber, da müssen wir uns eine brauchbare Ausrede einfallen lassen.“

      Streng fasste der General Meyendorff ins Auge und legte ihm die Hand auf die Schulter.

      „Herr Oberleutnant, Sie sind mir persönlich dafür verantwortlich, dass Fräulein Roth pünktlich um zehn Uhr zur Matinee erscheint.“

      Sie gingen weiter.

      „So, aber jetzt erzählen Sie schon, wie Sie durch die feindlichen Linien gekommen sind.“

      „Im Prinzip ganz einfach, Herr General. Meine Männer und ich haben uns tagsüber versteckt und nachts sind wir marschiert. Und wenn uns ein feindlicher Soldat entdeckt hat, haben wir ihn getötet.“

      Der General lachte lauthals.

      „Famos, Herr Oberleutnant, ganz famos! Das müssen Sie mir detailliert schildern.“

      BUDWEIS, NOVEMBER 1945

      Die grauen Portale, schmucklos und ohne jede Würde, gähnen trostlos in den Novembergassen meines Stadtteils. „Mein Stadtteil“ ist fast fürstlich gesprochen. Seine Hochwohlgeboren lassen sich herab, die Elendsquartiere innerhalb Seines Fürstentums zu beäugen. Oder so ähnlich. Nein, niemals kommt tatsächlich ein Adeliger oder sonst eine Person von Rang und Namen in die Vorstädte von Budweis. Die Inder kennen eine Kaste von Unberührbaren, Parias werden sie genannt, wenn mich meine lückenhaften völkerkundlichen Kenntnisse nicht wieder im Stich lassen. Sammelt alle Parias der Monarchie und pfercht sie in ein paar Städte zusammen, nennt diese Städte Brünn, Prag oder Budweis und schon seid ihr Besitzer der Gegenwart. Mein Stadtteil! Verkommene Bruchbuden, Barackenstädte und Kellerwohnungen, das ist mein Reich. Menschen, die sich längst mit Mäusen, Wanzen und Asseln im Wohnzimmer verbrüdert haben, Menschen, die gelegentlich das stark gebratene Fleisch von Ratten zu würdigen wissen, die aus Buchenmehl trefflich Sonntagsbrot zu backen wissen, weil das Weizen- und Roggenmehl nach Steyr, Pilsen oder Wiener Neustadt geht, sicher nicht nach Budweis. Hungernde Menschen kennen keine Würde, sie kennen nur ihr Leben, das sie aus ungeklärten Gründen von einem Tag auf den nächsten hieven wollen.

      Die Nächte im November fallen überraschend