„Gnädige Frau, es ist mir eine Ehre.“
Er küsste ihre Hand.
„Ganz meinerseits, Herr Oberleutnant.“
„Und Sie, mein Kind, sind wohl die Tochter von Wenzel Roth.“
Clarissa machte einen höflichen Knicks. Meyendorff bemerkte, dass der General Clarissa einen ähnlichen Blick zuwarf wie zuvor Frau Kirnbauer ihm.
„Wie war gleich Ihr Name?“, fragte der General.
„Clarissa, Herr General.“
„Nun denn, Clarissa, richten Sie Ihrem Herrn Papa schöne Grüße von mir aus und entschuldigen Sie mich bei ihm, ich hätte Sie natürlich viel früher zu einer Matinee einladen müssen. Und übermitteln Sie ihm auch noch meine besten Glückwünsche für eine so bezaubernde Tochter. Da tut’s mir richtig leid, Sie nicht eher kennengelernt zu haben.“
Kirnbauer fasste Clarissas Hand und tätschelte sie. Sein Blick verlor sich begeistert in ihrem wunderschönen Gesicht. Meyendorff verspürte einen Hauch von Ärger. Der Alte trieb es ja ganz schön bunt.
„Man hört, Sie sind ein wahrer Held, Herr Oberleutnant“, säuselte Frau Kirnbauer.
Der General ließ Clarissas Hand los und stellte sich Schulter an Schulter neben seine Gemahlin.
„Gnädige Frau, ich habe nur meine Pflicht getan.“
„Papperlapapp!“, empörte sich der General lautstark. „Unser junger Freund und eine Handvoll seiner Männer haben in wochenlanger Gefahr bewiesen, dass die k. u. k. Luftflotte über eine Mannschaft verfügt, vor der sogar die Preußen ihre Hüte ziehen müssen.“
Der General wuchs sichtlich, er hatte so laut gesprochen, dass der Trupp von Offizieren, der nun am Fuße des Sockels stand, alles genau hören konnte. Auch der deutsche Offizier hatte nichts versäumt.
„Solange es junge Soldaten vom Schlage des Oberleutnants von Meyendorff gibt, wird Österreich-Ungarn schließlich den Sieg davontragen.“
Meyendorff fühlte sich zum einen geschmeichelt, zum anderen steckte ein Kloß in seinem Hals.
„Der Kaiser“, fuhr der General in großem Ton fort, „vergibt nicht an jeden eine Goldene. Goldene wachsen nicht auf Bäumen, eine Goldene muss man sich verdienen. Herr Oberleutnant, ich bin stolz als Ihr Vorgesetzter, Sie hier in meinem bescheidenen Haus begrüßen zu dürfen. Seien Sie mein Gast.“
Applaus. Er spürte, wie die Blicke aller Anwesenden auf ihm ruhten. Seine Zunge klebte am Gaumen.
Die Frau des Generals lächelte hintergründig.
„Jetzt hast du unseren Helden verlegen gemacht. Entschuldigen Sie meinen Mann, Herr Oberleutnant, aber er ist unverbesserlich.“
Der General winkte generös einen Diener herbei.
„Johann, sorgen Sie dafür, dass sich das Fräulein Roth und der Herr Oberleutnant nicht über meine Gastfreundschaft beschweren können.“
Das war das Zeichen zum Abgang. Meyendorff küsste noch einmal die Hand der Frau des Generals, salutierte stramm, Clarissa knickste, dann folgten sie dem Lakaien zur Tafel. Die sieben Offiziere kletterten die Treppe zum General hoch. Ein höfisches Schauspiel.
Meyendorff war froh, wieder aus dem Rampenlicht abzutauchen. Er erhaschte einen Blick Clarissas. Sie war aufgewühlt und beeindruckt, sie war voller Sehnsucht.
BUDWEIS, NOVEMBER 1945
Das verstehe, wer wolle, ich bin gewiss zu blöd dafür. Ich war immer schon zu blöd für sogenannte Weltpolitik. Ein armer Tropf, gefangen in egoistischem Pazifismus, das bin ich, das war ich, das werde ich immer sein, wie es scheint. Knappe Horizonte, keine Weltsicht, kleinkrämerische Überlebenssucht, so bin ich. Aber was in Dreiteufelsnamen hat Deutschland davon gehabt, den großen Krieg von 14 bis 19 zu gewinnen? Einen Platz an der Sonne wollte man in Berlin. Den hat man auch bekommen, aber der Sonnenbrand hat sich hurtig eingestellt. Zehn Jahre lang wurden Frankreich, Russland und Belgien ausgepresst wie Obst in der Mostpresse, bis auf den letzten Tropfen, so lange bis nichts mehr vorhanden war, bis das geteilte Frankreich von den deutschen Industrieheuschrecken kahl gefressen war. Der große Südwesten musste Nahrungsmittel abführen, die moderate Reparation. Das kleine, industriell starke Nordfrankreich war der Vorhof der deutschen Stahlindustrie und arbeitete Tag und Nacht für die Akkumulation des Kapitals in den Ruhrmetropolen. So lange, bis die Franzosen hungernd zusammengebrochen sind. Ebenso die Belgier. Und die Weiten Russlands wurden geplündert, bis dort der Massenirrsinn Bahn brach und sich jeder gegen jeden mit Messer und Knüppel bewaffnete. Wir alle trauern noch um die Millionen Opfer, die der unendliche Hungerkrieg in Russland gekostet hat. Und die deutsche Industrie ist aus den Krisen der Zwanzigerjahre stark und stärker hervorgegangen. Die paar kleinen Hungersnöte in den germanischen Gauen waren schnell vergessen. Deutschland hat den Krieg gewonnen und war nun alleiniger Herrscher über Europa. Die liebe Donaumonarchie wandelte sich immer mehr zu einem Schauspielhaus für weltpolitische Banalitäten und Peinlichkeiten, aber die Preußen lieben die Österreicher und halten ihnen die Stange. Welcher preußische Landstreicher mit Zahnlücken gilt in der Welt nicht als ein großer Herr im Vergleich zu einem österreichischen Grafen? So etwas gewährleistet Sympathien auch in Krisenzeiten.
Aber Deutschland kriegt nicht genug, kriegt nie genug, will weiter Muskeln und Speck ansetzen, will die erste Macht auf der ganzen Welt sein. Nieder mit Amerika! Das war das neue Schlagwort der Hohenzollerschen Diplomatie. Schön, dass England vor 1914 reich an Kolonien war, sehr schön, fabelhaft sogar, denn ab 1919 fielen fast alle an Deutschland. Der brave Kaiser Wilhelm hat emsig Geschichte studiert und weiß, wie man ein Weltreich sichert. Mit Dreadnoughts! Nur Dreadnoughts gewährleisten heutzutage imperiale Macht. Schließlich waren es auch Dreadnoughts, die bei Scapa Flow die entscheidende Wende im großen Krieg gebracht haben. Also kochen die Hochöfen Deutschlands feinsten Stahl und die Werften an der Nord- und Ostsee schmieden große, immer größere Linienschiffe. Bald sagt man Super-Dreadnought. Die Kaliber werden immer größer, die Panzergürtel immer stärker, die Zewed-Geräte immer präziser. Bloß kostet ein Super-Dreadnought so viel, dass man eine Stadt wie Magdeburg tausend Jahre durchfüttern kann, obwohl, wie man weiß, der Bürgermeister von Magdeburg ein großer Esser ist. Deutschland laugt in den Zwanzigerjahren Europa aus, um die Industrie stark zu machen, in den Dreißigerjahren sind die Kolonien dran. Die besten Rohstoffe der Erde werden in hanseatischen Werften zu Großkampfschiffen geformt. Die deutsche Hochseeflotte auf allen Weltmeeren. Ahoi Mariechen, in zwei Jahren bin ich wieder zu Hause, ich schippere gerade mal eben zum heiteren Kanonenschießen nach Tsingtau.
Arme Welt, arme Menschheit, oder besser: dumme Menschheit. Die besten Leistungen menschlichen Fleißes werden für Kriegsschiffe vergeudet. Das ist meine miesmacherische Ansicht, aber ich bin ja politisch vielleicht ein Trottel.
Was weiß man in einem böhmischen Elendsquartier über das gelobte Land jenseits des Atlantiks? Bis auf eines nichts. Und dieses eine ist auch nicht schmeichelhaft. Leider. Denn für jedes deutsche Linienschiff haben die Nordamerikaner ebenfalls eines gebaut, für jeden deutschen Zerstörer sogar zwei. Brave Amerikaner, fleißige Amerikaner, reiche Amerikaner, ihr habt bewiesen, dass euer Kontinent wohlhabend ist, denn ihr habt ihn für Linienschiffe geplündert. US Navy sagt man, nicht mehr Royal Navy. Letztere ist in den Fluten der Nordsee versunken, Erstere wählt sich für dieses Schicksal den größeren Teich, den Atlantik.
Zehn Jahre lang haben die Großmächte jede Penunze in die Rüstung gesteckt, und wir einzelgängerischen und pazifistischen Defätisten wissen, wie das endet. Hellau, es brennt auf den Meeren, auf den Kontinenten und in den Lüften über den Wolken. Das verstehe, wer will, ich bin schlicht und einfach zu dumm dafür, denn mir gehen im Kopf hirnverbrannte Ideen um. Hirnverbrannt. Ich stelle mir vor, wie die europäischen Staaten all ihr mühsam erarbeitetes Kapital in den Bau von Wohnhäusern, Schulen und Universitäten