Schöne Sommer im Marchfeld. Ich habe so viele Erinnerungen in meinem Kopf, Millionen einzelne Lebensfragmente. Warum aber nur so schmerzlich wenige an die Sommer meiner Kindheit? Einmal, zweimal im Jahr schwimmt eine Erinnerung an das Marchfeld hoch, von einem unverständlichen Gefühlsstrom erfasst, überflutet mich, löst Jubel und Festtagsstimmung in mir aus und strahlt helles Licht unbeschwerter Kindheitstage auf mich nieder. Ich bin eine sentimentale Eule. Wogende Getreidefelder, fruchtig rote Punkte in den Kirschbäumen, das rhythmische Scharren, wenn die Schnitter ihre Sensen schärfen für die Mahd. Ja, die Kirschbäume! Ich sitze auf einem Ast, die Mooswinkler Kathi ein Stückchen tiefer. Wir mampfen. Frech spucke ich Kerne hinunter, und sie schimpft, weil ihr Kleid Flecken bekommen könnte. Liebe Katharina, Freundin meiner frühen Sommer, Spielgefährtin und zukünftige Braut, ich wollte dich ja heiraten, später, wenn wir beide erwachsen sein würden, du fandest es zwar gemein, wenn ich dich boxte, konntest aber meinen Heiratsabsichten durchaus etwas abgewinnen. Ist nie etwas geworden, wirst wohl einen anderen geheiratet haben. Sommertage in der weiten Ebene des Marchfeldes. Kostbare und rare Erinnerungen an eine versunkene Welt.
Ich werde wohl den Spaziergang etwas verkürzen, denn die Hüften und die Knie schmerzen immer stärker. Also kriegen wir doch früher als erwartet Regen und Nebel. Vielleicht sollte ich zum Armeewetterdienst gehen. Herr General, meine Gelenke sind heute ganz tadellos, schicken Sie Ihre Bombenflugzeuge los. Nein, damit scherzt man nicht, ich bin so blöd. Erst Ende Oktober hat ein Bomber irrtümlich seine tödliche Last über Budweis ausgeklinkt. Zwanzig Tote hat es gegeben. Na ja, Pilsen oder Steyr erreichen sie nicht, dort stehen Flakbatterien und die Abfangjäger, also schmeißen sie die Bomben irgendwohin, und wenn es sein muss, sogar auf eine industriell so unbedeutende Stadt wie Budweis. Immerhin haben wir hier die Bahnlinie zwischen den k. u. k. Schwerindustriezentren, da lohnen sich vielleicht ein paar vom Himmel fallende Bomben und Knochen amerikanischer Flieger.
Aber was weiß ich von Strategie, ich lebe in einem Kellerloch, zähle meine Brotmarken und hoffe, die Marken tatsächlich in Brot tauschen zu können. Ich bin ein winziges Rädchen einer Staatsmaschinerie, welche den Krieg als Selbstzweck ansieht und danach wirtschaftet. Bald bricht wieder ein neuer Kriegswinter an, und niemand weiß, wie viele noch folgen werden. „Kräftepatt“ sagen die Zeitungen, die Mittelmächte beherrschen Europa und den Mittleren Osten, die Alliierten den Rest der Welt. Ich glaube nicht, dass ich in meinem Leben noch den Frieden sehen werde, und ich zweifle, ob es den folgenden Generationen vergönnt sein wird. Alter, klappriger Staat, schon vor fünfzig Jahren hat niemand mehr an eine Weiterexistenz der Donaumonarchie geglaubt, aber dieser Staat ist zäh, dieser Staat lebt durch und für den Krieg, nur der Krieg hält ihn noch zusammen. Die Schwerindustrie in Wien, Pilsen und Linz, die Munitionsfabrik in Wöllersdorf, die Waffenschmiede in Steyr, die Flugzeugwerke in Wiener Neustadt, die Panzerfabrik in Budapest, das sind die tragenden Kräfte dieses Staates. Und der Hochadel und der Generalstab sind die Verwalter. Nibelungentreue auch im zweiten großen Krieg. Deutschland, Österreich-Ungarn und die Türkei, die Bündnispartner des Jahrhunderts. Diese drei Staaten werden noch viele Jahre Krieg führen können. Gewinnen werden sie nicht, daran glaubt niemand, verlieren werden sie aber auch nicht, also wird der Krieg noch manche Tage schmierigen Novemberlichtes erleben.
Ende des Spaziergangs, ich werde mich ins Bett legen und den weiteren Sonntag unter der Decke verbringen. Da ist es nicht so kalt. Der Winter beginnt schlecht, alle werden hungern, viele werden krank werden, manche werden sterben. Und ich soll ein Spion sein? Ich spinne, aber Schachner ist wirklich verrückt. Mit Kryptogrammen gegen die Generäle. Das ist kann doch nur ein bizarrer Witz des Lebens sein. Wenn ich wenigstens Arbeit hätte, da bekäme ich mittags immer Suppe oder Eintopf.
OSTFRONT, APRIL 1915
Bleiche Angst tropft mir kaltes Regenwasser auf den Rücken. Ich nagle meine Augen in die schmatzend feuchte Erde. Nur nicht nach oben schauen, nur nicht nach oben schauen. Geduckt wie ein sich vergrabendes Tier in der Pfütze hocken und hoffen, dass endlich der Regen aufhört. An Schlaf ist nicht zu denken, obwohl meine Lider schwerer noch als die lehmverkrusteten Stiefel nach unten ziehen. Das wäre es überhaupt, sich nach unten in die Erde ziehen zu lassen, tot in den Schoß der Mutter zu sinken. Nein, das Leben bleibt. Und die Angst.
Vorderste Linie, vier Uhr früh. Jedes Geräusch wird zur lebensbedrohlichen Furie, dabei bin ich so gut wie taub und höre nichts. Nein, ich strecke nicht den Kopf hoch, ich bleibe unten, ich schaue nicht in die Welt hinaus, ich schmiege meine Wange an die nasskalte Erde. Ich hocke und hoffe auf das Tageslicht, denn dann bin ich abgelöst und werde nicht mit den Russen ein paar Meter weiter um die Wette lauschen müssen. Im prasselnden Regen hört man ohnedies nichts. Und von Sehen kann nicht die Rede sein. Blind, taub, stumm sind wir. Der Österreicher hier, der Russe dort, blind, taub und stumm. Aber schwer bewaffnet. Gewehr bei Fuß und Munition für eine Woche.
Ob der Schnupfen noch stärker wird? Frühlingserwachen mit Regen und Segen. Nur ist nicht ein einziges Fleckchen an mir nicht durchnässt, kalt, klamm und starr. Melde gehorsamst, Herr Leutnant, das Gewehr ist sauber und funktionstüchtig, nur der Plänkler ist im Schlamm versunken. Hoffentlich kommt nicht eine Lungenentzündung den Schützengraben entlangmarschiert und spießt mich auf ihr Bajonett. Oder sollte ich darauf hoffen, um der vordersten Linie zu entkommen?
Der maßgeblichste Vorzug des Stellungskrieges ist die Überschaubarkeit. Jeder Winkel im Schützengraben ist dem Infanteristen ein Begriff. Dort lag Meier. Kopfschuss, in zehn Sekunden tot. Dort lag Müller. Nasenschuss, in zwei Wochen elend abgekratzt. Dort lag Schmied. Kieferschuss, sein Leben lang entstellt. Dort lag Brunner. Halsschuss, in zwei Minuten tot. Dort lag Steiner. Schulterschuss, in drei Monaten wieder an der Front.
Nur nicht einschlafen, niemals einschlafen auf nächtlichen Wachposten an der vordersten Linie. Selbst wenn das Wetter jede Bewegung, die eigene wie die des Feindes, unmöglich macht.
Alfred steht neben mir, wohl seit einer Stunde verharren wir regungslos nebeneinander. Meine dritte Nachtwache, meine vierte Stellung an der vordersten Linie. Ein paar Schritte weiter steht Otto. Sein Gewehr liegt im Matsch. Der Idiot kann sein Gewehr einfach nicht in der Hand halten. Immer legt er es irgendwo ab, wo es verdreckt. Wie soll er da schießen? Mit verdrecktem Lauf? Idiot. Mit dem Kerl hat das Regiment den kühnsten Streiter in diesem großen Ringen der Völker erhalten. Der größte Held des Kaisers! Beim Anmarsch hat er nach einer kurzen Rast sein Gewehr nicht wieder umgehängt, sondern irgendwo in der galizischen Trostlosigkeit liegen lassen. Erst nach sieben Kilometern Fußmarsch bemerkt der Leutnant, dass ein Plänkler ohne Waffe marschiert. Wo ist dein Gewehr, Infanterist? Otto kriegt große Augen, rennt panisch herum. Er hat das Fehlen seines Gewehrs überhaupt nicht bemerkt. Aber keine Zeit für eine Kehrtwendung, das Marschbataillon muss schnell zum Sammelpunkt, also weiter sich in die dreißig Kilogramm schwere Ausrüstung stemmen und schwitzend, keuchend, wie Ochsen beim Pflügen im Morgengrauen dampfend einen Schritt um den anderen setzen. Voran, voran, der Front entgegen.
Am Sammelpunkt gibt es die Standpauke vom Major. So etwas hat er noch nicht erlebt, ein Infanterist, der sein Gewehr ganz einfach vergisst, so etwas hat er noch nie gehört. Wer ist der Kretin? Der Kretin soll vortreten! Otto Drabek kippt fast um vor Angst. Er überragt den Major um eine Kopfhöhe und sein breiter Rücken ist vom Schleppen der Ausrüstung scheinbar nicht gebeugt, aber unter dem Donnerwetter des Majors schrumpft er zum Insekt. Anbinden, der Kerl wird eine Nacht lang angebunden, da wird er den Wert eines Gewehrs zu schätzen lernen. Sagt der Major. Und dabei ist er noch viel zu gut, sagt er, in Wahrheit gehört so ein Kerl vor das Standgericht. Also wird Otto an einen Baum angebunden. Quälend für ihn, beschämend für das Bataillon. Ihr Nichtsnutze habt also auf den Kretin in euren Reihen nicht