Chris schloss die Augen und mit leiser Stimme trug er über Minuten hinweg die Passage aus Kapitel 19 des Romans vor. Die Stille am Tisch ließ den Vortrag wie eine Predigt wirken.
Blass im Gesicht, senkte Sandra den Roman. Dann sah sie zu Elias. »Wort für Wort«, murmelte sie.
Ihr Bruder beugte sich aus dem Rollstuhl zu ihr hinüber und griff nach den Seiten. »Chris, du willst mir doch nicht erzählen, dass du lesen kannst, darüber hinaus auswendig lernst?« Elias hörte sich ärgerlich, nein, eher verängstigt an, während sein Blick auf dem fünfjährigen Knirps ruhte. Dieser schien mit der allgemeinen Verwunderung nichts anfangen zu können, denn er aß genüsslich sein Lieblingsmenü weiter.
Kapitel 32: Der erste Schultag
Washington, D.C., September 2022
Nur wenige Monate, nachdem Chris aus dem Roman »Roots« rezitiert hatte, wurde er in der gleichen Grundschule, die auch seine Schwester besuchte, eingeschult.
Die jetzige Maret-Privatschule befand sich nördlich des Weißen Hauses, 3000 Cathedral Ave, NW. Ein imposanter, parkähnlich angelegter Schulkomplex, der an die moderne Umsetzung altenglischer Architektur erinnerte. Das geradlinige, helle Design der Gebäude war von einer Säulenarchitektur getragen und mit Runderkern ergänzt. Ende des 18. Jahrhunderts machten sich drei Schwestern von Genf aus auf den Weg, in ausländischen Schulen zu unterrichten. Während es die beiden Schwestern Louise und Jeanne nach Russland und auf die Philippinen verschlug, lehrte Marthe Maret, trotz ihrer Erblindung im zarten Alter von achtzehn, in Washington, D.C. Als dann die Schwestern Louise und Jeanne 1911 Marthe folgten, gründeten sie die Maret-Privatschule in der Hauptstadt der USA mit dem Ziel, der Schule internationales Flair einzuhauchen. Besagter Philosophie war man bis heute, 111 Jahre nach der Gründung, treu geblieben.
Aus dem Vorschulprogramm, der preschool, hatte Sandra ihren Sohn vor zwei Jahren – nach nur wenigen Tagen – wieder herausgenommen. Grund hierfür war, dass Chris meist gelangweilt in der Ecke saß, ohne Interesse für die Spiele oder Bastelaufgaben zu zeigen, denen gleichaltrige Kinder mit Freude folgten.
»Mrs. Deloy … Owen, Sandra Owen, wir hatten telefoniert.« Sandra streckte ihre Hand zur Begrüßung aus.
»Ah, Mrs. Owen! Nehmen Sie doch bitte Platz.« Freundlich deutete Mrs. Deloy auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch.
»Ihre Tochter geht in die zweite Klasse, richtig?«
Sandra nickte.
»Das Anmeldeformular für Ihren Sohn haben wir erhalten und ich freue mich schon, ihn kennenzulernen. So, wie die Planung derzeit aussieht, wird er in eine Klasse mit insgesamt vierzehn Schülern kommen – Ihren Sohn eingeschlossen.«
»Ist es eine gemischte Klasse?«
»Natürlich, Mrs. Owen. Weder im Geschlecht noch in der Hautfarbe machen wir hier an unserer Schule Unterschiede.«
»Das … das freut mich, Mrs. Deloy.« Sandra stockte.
»Hegen Sie irgendwelche Zweifel, Mrs. Owen?«, fragte die Direktorin, der die Redepause der jungen Mutter nicht entgangen war.
»Nein, nein, keineswegs. Es sind nicht die Zweifel an Ihrem Schulsystem, die mich nachdenklich stimmen. Vielmehr ist es mein Sohn.«
»Ihr Sohn?« Mrs. Deloy runzelte fragend die Stirn und nahm ihre braune Hornbrille von der Nase.
»Es ist so, mein Sohn ist anders als die Kinder in seinem Alter. Sowohl äußerlich als auch in seiner Entwicklung.«
Ein Lächeln huschte über das Gesicht von Mrs. Deloy, deren Augen nun ohne Brille wesentlich kleiner wirkten. »Mrs. Owen, hierüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Wenn in unserer Schule eines ausgeschlossen ist, dann das Thema Rassismus. Wir leben die kultivierte Philosophie unserer Gründungsschwestern seit nunmehr über hundert Jahren.«
»Ich habe auch nicht die Befürchtung wegen meiner Hautfarbe«, erwiderte Sandra. »Vielmehr liegt es am, wie erkläre ich es am besten, abnormen Erscheinungsbild meines Sohnes. Er leidet – nein – das wäre falsch ausgedrückt … Sagt Ihnen menschlicher Albinismus etwas?«
»Sie meinen, Ihr Sohn ist ein Albino?«, fragte Mrs. Doyle, wobei ihr just in diesem Moment die Härte der Betonung auf »Albino« peinlich war.
»Ja, in seiner Hautfarbe ähnelt er mehr einem Weißen als einem Schwarzen.«
»Aber wo liegt da das Problem?«, fragte Mrs. Doyle nun sanft, ebenso im Versuch, den vorherigen Fauxpas wieder wettzumachen.
»Das alleine ist es nicht, auch wenn man ihm den Albinismus ansieht. Chris ist jetzt sechs Jahre alt und er hat sich diametral anders entwickelt als seine Schwester.«
»Meira, ich kenne sie. Ein wirklich liebes und aufgewecktes Kind.«
»Ja, das ist sie und sie freut sich auch sehr darüber, dass ihr Bruder jetzt ebenfalls in ihre Schule geht.«
»Na, dann ist doch alles perfekt«, lächelte Mrs. Doyle, hakte aber noch einmal nach: »Was verstehen Sie unter diametral anders?«
»Er liest«, flüsterte Sandra.
»Das ist doch toll. Etliche unserer Schüler kommen zu uns ins erste Schuljahr und haben bereits in der Vorschule etwas lesen und schreiben gelernt.«
»Sie verstehen nicht, Mrs. Doyle. Chris war nicht in der Vorschule und er liest auch nicht wie Kinder in seinem Alter. Die Bücher, die er … die er regelrecht verschlingt, sind Romane, Erwachsenenromane, Sachbücher. Er löst Rätselaufgaben wie Sudoku in wesentlich kürzerer Zeit, als ich es je schaffen könnte.«
Die Pause, die nun folgte, kam Sandra wie Stunden vor und erschwerte ihre Atmung. »Das ist in der Tat ungewöhnlich«, stimmte Mrs. Doyle zu. »Einige der Eltern sitzen vor mir in der Überzeugung, dass ihr Sohn oder ihre Tochter hochbegabt sei. Meist machen sie es an Themen wie Rechnen, Schreiben, Lesen fest. Aber ich muss zugeben, noch niemand hat mir je berichtet, dass sein Kind in diesem Alter Romane liest.«
»Es gibt immer ein erstes Mal«, entgegnete Sandra schüchtern lächelnd.
»Nun gut, Mrs. Owen. Machen Sie sich hierüber keine Gedanken. Ich bin überzeugt, dass, sollte sich eine derartige Begabung Ihres Sohnes bestätigen, wir hierfür die richtigen Mittel zur Verfügung haben und einen Weg finden, ihn, selbstverständlich in Rücksprache mit Ihnen, entsprechend zu fördern.«
In Rücksprache mit mir, dachte Sandra erleichtert. »Sie haben mich tatsächlich beruhigt, Mrs. Doyle. Mein Wunsch ist es, Chris so normal wie nur möglich zu erziehen. Das schließt die Schulbildung mit ein.«
»Dann sind wir uns ja einig. Gibt es sonst noch etwas, bei dem ich Ihnen behilflich sein kann?«
Die Unterhaltung mit der Direktorin Mrs. Doyle lag vier Wochen zurück, als Sandra neben ihrer Mutter in der großen Aula der Schule saß. Elias hatte seinen Rollstuhl, direkt neben dem Sitzplatz seiner Schwester, im Gang platziert. Die Aula, welche mit zahlreichen Stühlen gefüllt war, wurde von einer großen Bühne im vorderen Teil des Saals dominiert. Für Weihnachtsfeiern, Orchesteraufführungen, Musicals der Schüler und viele weitere Veranstaltungen war dieser theaterähnliche Raum bestens gerüstet. Heute stand die Einschulung der Neuzugänge auf der Tagesordnung. Während Eltern und Familienangehörige auf den hinteren Sitzreihen Platz fanden, saßen die jungen Schülerinnen und Schüler vorne, direkt vor der Bühne.
Sandra kannte bereits das »Aufnahmeritual«, welches kurz und knapp vonstattenging. Einer kurzen Ansprache durch die Direktorin, die sowohl die Erstklässler als auch deren Angehörige begrüßte, folgte die Zuordnung der Schüler zu den Klassenlehrern. Nach einer knappen Begrüßung der jeweiligen Lehrkraft wurden die zugeteilten Schüler namentlich aufgerufen. Sie sammelten sich an der Bühne, um anschließend ihren Lehrern zu den Klassenzimmern zu folgen.
Sandra