Dass seine Mutter die Lehrerin mit Vornamen ansprach, war ihm bisher entgangen. Chris gefiel der Vorschlag. Mit den anderen Kindern aus der Schule zu spielen, langweilte ihn. Ausgenommen Meira. Seine Schwester betrachtete ihn mit Stolz und er fühlte sich durch die Aufmerksamkeit, die sie ihm entgegenbrachte, geschmeichelt. Stundenlang erzählte er ihr Geschichten, die er zuvor gelesen hatte. Wenn es indes darum ging, über diese Geschichten und deren Inhalte nachzudenken, sich darüber zu unterhalten, verebbte das Interesse der Schwester. Noch war sie nicht so weit, seinen Überlegungen zu folgen. Sicher würde es mit Miss Rudolph spannend werden. Zweifellos würde sie ihm dabei helfen können, Themen, an denen er scheiterte – was ihn teilweise grimmig stimmte –, so zu erklären, dass auch er sie verstand. Würde Miss Rudolph auch das andere, das »Ding«, deuten können? War sie in der Lage, ihm das in seinem Kopf zu erklären? Sollte er sich ihr überhaupt anvertrauen? Im Internet hatte er heimlich über Hannibal Lecter gelesen. War er bei dem, was sich ab und an in seinem Kopf abspielte, ebenso verrückt wie Hannibal? Würde man ihn auch wegsperren, sollte er sein Geheimnis preisgeben?
Kapitel 35. Die Pause
Chris fand sich in der Rolle des »durchschnittlichen« Erstklässlers sehr gut zurecht und bewies schauspielerisches Talent – ganz zum Wohlgefallen seiner Lehrerin, die ebenfalls zur perfekten Inszenierung beitrug. Einzig Alica Adams, seine Banknachbarin, schien das Theaterspiel zu durchschauen. Zumindest vermutete Chris dies, da sie ihn hin und wieder seltsam wissend betrachtete. Alica war auch die Einzige in der Schule, mit der Chris intensiver in Kontakt kam. Ebenso freundete sich Meira mit Alica an, da sie die Pausen häufig zu dritt im Park des Schulgeländes verbrachten.
Wie in vielen Schulklassen, gab es auch in Chris’ Klasse einen Pausenclown. Daneben einen, der sich von allen anderen Respekt erkämpfte und vor dem jeder in Habachtstellung ging. Der Rest der Klasse gruppierte sich entweder zu den Außenseitern oder zu den eher unauffälligen Mitläufern. Wie sich herausstellte, nahm Tom ideal die Rolle des Kaspers ein. Keine Minute verging, in der er nicht versuchte, durch – zugegebenermaßen dämliche Kommentare – im Mittelpunkt zu stehen.
Außenseiter waren, wie nicht anders zu erwarten, Chris und seine Banknachbarin Alica. Schnell hatten beide Spitznamen weg, ärgerlich, doch unausweichlich. »Spook« oder »Spooky« spielte auf die blasse Gestalt wie auch auf Chris’ rote Augen an. Dieser konnte damit leben. Härter traf es Alica, wenn ihr »Miss Piggy« hinterhergerufen wurde. Sie zuckte jedes Mal zusammen und litt sichtlich unter dem Spott der Klassenkameraden.
Die große Ausnahme war »Hulk«, der den Namen für sich selbst gewählt hatte und darauf bestand, eben so angesprochen zu werden. »Hulk« war niemand anderes als Scott Fitzgerald, der den Respekt aller Mitschüler in nur wenigen Tagen erlangt hatte. Ein jeder, der in seinen Fokus geriet, wurde mehr oder weniger drangsaliert. Das Eigentum der Klassenkameraden zählte für »Hulk« nicht. Stifte, Pausenbrote – wenn er etwas wollte, griff er danach. Wehrte sich der- oder diejenige, gab’s Prügel.
Tom, der Clown, und Scott Fitzgerald hingen meistens gemeinsam ab. Während »Hulk« sich als König aufspielte, erfüllte Tom die Rolle des Hofnarren.
Im wiesengrünen Park des Schulgeländes teilten sich die Schüler der unterschiedlichen Altersstufen in den Pausen ihre Reviere ein. So hielten sich die unteren Jahrgangsstufen in der Nähe des Schulgebäudes auf, während die älteren weiter entfernt ihre Ruhe suchten, um unter sich zu sein.
»Du bist dran«, lachte Meira und sah zu Alica, die neben ihr unter einer ausladenden Ulme saß.
Alica wirkte etwas verlegen. Noch immer begriff sie die Regeln des neuen Kartenspiels, welches Chris mitgebracht hatte, nicht so recht. Daher lugte dieser ihr über die Schulter und tippte auf jene Spielkarte, die dem bunten Bild nach am sinnvollsten zu legen war.
»Du sollst ihr nicht immer helfen«, protestierte Meira, aber am Grinsen der beiden erkannte sie, dass ihr Einwand wenig Gehör fand.
»Mist, jetzt hat Alica schon wieder gewonnen«, schimpfte Meira, doch ihre Wut hielt sich in Grenzen.
Nun war Chris an der Reihe, die Karten neu zu mischen, als er von Weitem Scott Fitzgerald in Begleitung seines Schattens Tom herannahen sah. »Hulk« baute sich zusammen mit seinem Freund drohend vor der Dreiergruppe auf. »Na, was spielen die Babys denn da? Karten? Miss Piggy, kannst du die mit deinen Wurstfingern denn überhaupt halten?« Scott stieß Tom höhnisch lachend in die Seite. Dieser blähte die Backen, während seine Augäpfel hervortraten.
»Du bist ja sooo fett, Miss Piggy. Auf einer Ranch hätten sie dich längst geschlachtet.« Tom begann wie ein Schwein zu quieken.
»Lasst uns in Ruhe«, fuhr Chris sie an.
»Ach, Spooky kann reden«, gab Scott von sich. »Du willst wohl eine, was?« Wie immer schlug Scott seine Faust in die Handfläche, um zu demonstrieren, was für ein toller Hecht er war.
Keiner der drei gab etwas zur Antwort. Chris mischte weiter seelenruhig die Karten, spürte jedoch, dass Scott nicht von ihnen lassen würde.
»Spooky ist ein Angsthase, Spooky ist ein Angsthase«, begann Scott zu spötteln. Dabei stieß er mit seinem Turnschuh mehrfach an Chris’ Oberschenkel.
»Hör bitte damit auf«, ermahnte Chris ihn und sah Scott direkt in die Augen. Doch Scott spornte die Gelassenheit des Klassenkameraden geradezu an. Er holte aus, um Chris einen heftigeren Tritt zu verpassen. Blitzschnell fuhr Chris’ Hand zur Seite und er bekam Scotts Fuß zu fassen. Ebenso flink war Chris auf den Beinen. »Scott, ich will mich nicht mit dir streiten. Lass uns einfach in Ruhe und verschwinde.« Meira und Alica saßen verängstigt auf dem Rasen.
»Ich will mich nicht streiten«, äffte Scott die Worte von Chris nach. »Hulk« war in seinem Element. Als auch noch andere Kinder, die das Gerangel beobachteten, hinzutraten, hatte er das Publikum auf seiner Seite. Mit der Rechten stupste er Chris an der Schulter. »Na, was willst du jetzt machen?«, fragte Scott hämisch.
Chris blickte dem Klassenkameraden tief in die Augen. Wieder holte Scott aus, um ihn zu stoßen. Doch dieses Mal hielt Chris dagegen, fasste nach der Hand des Widersachers und zog diesen zu sich heran. »Ich werde mich nicht prügeln, hörst du!« Dann waren Chris’ Lippen direkt am linken Ohr Scotts. Keiner der Umstehenden hörte, was er flüsterte. Allerdings erstaunte es die Schaulustigen, dass »Hulk« wie versteinert wirkte und jegliche Farbe aus seinem Gesicht wich. Nur wenige Augenblicke später ließ Chris von Scott ab, setzte sich neben seine Schwester und begann von Neuem die Karten zu mischen. Tom starrte zu Scott. Sein Freund stand da wie zu einer Eisskulptur gefroren, bevor er Tom wortlos am Ärmel zupfte, um dann eiligst das Weite zu suchen.
»Was hast du ihm zugeflüstert?«, fragte Alica.
»Nichts weiter«, entgegnete Chris. »Lass uns weiterspielen.«
Fragend blickten sich Meira und Alica an.
Seit diesem Tag, diesem Zusammentreffen, wagte es Scott nicht mehr, die Hand gegen Chris oder dessen Freunde zu erheben.
Scott spürte den warmen Atem von Chris an seinem Ohr, als er die wispernde Botschaft vernahm, die ihn bis ins Mark erschreckte. Es waren zunächst nicht die Worte von Chris, nein, es waren die seines Vaters.
»Scott, wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst deinen Baseballschläger nicht im Garten liegen lassen? Komm her, du Mistkerl, ich werd dich lehren, pfleglich mit den Sachen, die ich mit meinem sauer verdienten Geld gekauft habe, umzugehen!« Chris sprach weiter: »Lass dich nicht von deinem Vater schlagen. Er darf auch nicht die Hand gegen deine Mutter erheben! Hörst du? Sprich mit Miss Rudolph! Bitte sie um Hilfe!«
Kapitel 36: Privatstunden
»Wenn du liest, Chris, beschreibe mir, was du dir dabei denkst und wie sich der Text in deinem Geist bildet.«
»Was