Kapitel 22: Der Morgen danach
Vor einer Stunde war die Sonne über dem Dorf in Tamiga aufgegangen, als die Luft bereits unter der sengenden Hitze schwirrte und den Horizont in flirrendes Licht tauchte. Bahati und Orma trafen sich am Dorfplatz, um den Rest des Weges gemeinsam zur Schule zu gehen. Sie hatten ein paar Minuten auf ihren Freund Akono gewartet, wollten jedoch nicht zu spät kommen und schlenderten, nachdem dieser nicht erschienen war, los. Bestimmt, so dachten sie, hing es mit Akonos Mutter zusammen, die am Vortag ins entfernte Krankenhaus nach Burkina Faso gebracht worden war.
Neben dem länglichen Lehmbau, dem Schulhaus Tamigas, spielten einige Kinder. Gerade als die beiden ankamen, rief die Lehrerin auch schon zum Unterrichtsbeginn aus dem Klassenzimmer ins Freie. Lautes Stimmengewirr erfüllte den Raum, bis sich nach und nach die Schüler an ihre kleinen Holztische setzten. Frau Contee, die Lehrerin, stand in ihrer bunten Tunika und gelben Plastiksandalen vor der Schiefertafel und lächelte freundlich in die Klasse.
»Weiß jemand, wo Akono heute Morgen ist?«, fragte sie, als ihr Blick von dessen leerem Sitzplatz zu den Freunden Bahati und Orma wanderte. Die beiden verzogen unwissend die Münder und zuckten mit den Schultern. »Na gut, er wird sicher gleich kommen. Wir fangen dennoch an. Schlagt euer Buch auf Seite 14 auf. Da sind wir gestern stehen geblieben.«
Der Vormittag verging dank des interessant gestalteten Unterrichts, den Frau Contee gerne mit dem einen oder anderen Spaß auflockerte, rasch. Das Lachen der Kinder erfüllte ihr Gemüt stets mit dem befriedigenden Gefühl, genau den richtigen Beruf gewählt zu haben.
Als sie zur Pause rief, winkte sie Bahati und Orma zu sich: »Könntet ihr zu Akono laufen und nachsehen, ob er verschlafen hat? Seine Eltern sind gestern mit Tafari nach Burkina Faso gefahren. Sicher liegt er noch träumend im Bett.«
Bereitwillig liefen sie los, rannten den ganzen Weg zu Akonos Hütte. Von Weitem riefen sie: »Akono, Akono, aufwachen«, und stolperten außer Puste ins Innere der schattigen Behausung. Tatsächlich lag Akono auf der Matratze, den beiden Freunden den Rücken zugekehrt. Orma rüttelte an Akonos Schulter, drehte ihn zur Seite – und die beiden Kinder erschraken fürchterlich. Regungslos lag ihr Freund vor ihnen. Aus Augen und Nase rann hellrotes Blut.
»Akono, wach auf.«
Das Gesicht Akonos zeigte keinerlei Regung. Orma zupfte Bahati am T-Shirt und dieser wusste, was sein Freund im selben Augenblick dachte. Noch schneller als zuvor rannten sie den Weg zurück zur Schule.
Frau Contee saß in ein Buch vertieft im Schatten eines Baobab, des afrikanischen Affenbrotbaumes. Sie hob den Kopf, als sie die Buben laut rufend auf sich zulaufen sah. Das Geschrei weckte die Neugier der anderen Schulkinder und sie umringten die Freunde, während sich diese schnaufend vor der Lehrerin gegenseitig ins Wort fielen.
»Frau Contee, Akono – kommen Sie – liegt tot in der Hütte und – kommen Sie schon – überall ist Blut. Kommen Sie!«
Verwirrt und aufgewühlt sprang Frau Contee auf und folgte eiligen Schrittes dem vorauslaufenden Orma, die restlichen Schüler wie eine Traube hintendrein. Nach wenigen Minuten erreichten sie Akonos Wohnstätte. »Ihr bleibt draußen«, befahl die Lehrerin den Kindern. Dann betrat sie die Lehmhütte.
Noch immer lag Akono regungslos auf dem Rücken. Sie sah das Blut, erkannte aber auch, dass sich sein Brustkorb hektisch hob und senkte. Vorsichtig fühlte sie mit ihrem Handrücken seine Wange. Er glühte und Schweißperlen sammelten sich auf der Stirn und Oberlippe. Nervös trat sie vor die Hütte.
»Für heute fällt der Unterricht aus. Akono hat hohes Fieber, aber er atmet. Orma, lauf zum Ältesten und bitte ihn, sofort herzukommen. Ich bleibe hier.«
Kapitel 23: Die Mail trifft ein
Genf, 2016, Weltgesundheitsorganisation, WHO, 03:17 Uhr Ortszeit
Victor Schranz saß an seinem Schreibtisch, während er, die Füße hochgelegt, in einem Männermagazin blätterte. Um die leidigen Nachtschichten durchzustehen, schwor er auf das »Wachhalteelixier«, bestehend aus Kaffee und Gummibärchen. Seine Aufmerksamkeit galt ganz und gar einer schönen Brünetten, die sich lediglich mit Stringtanga bekleidet auf einer schräg über dem weißen Sand gewachsenen Palme eines karibischen Strands räkelte. Wie gerne würde er in diesem Augenblick neben der Palme sitzen und ihr das Händchen halten! Er schmunzelte und schlürfte am heißen Kaffeebecher. In dem Moment, da er in erwartungsvoller Spannung die Seite umblätterte, um sich der nächsten lasziven Pose des Mädchens verträumt hinzugeben, erfasste er aus dem Augenwinkel heraus eine Mitteilung am Monitor des PCs.
»Eine neue Nachricht befindet sich in Ihrem Postfach«, war der lapidare Hinweis am Bildschirm.
Nicht gerade jetzt, dachte Schranz, doch der Job gebot, alle eingehenden Meldungen umgehend zu prüfen. Er nahm die Füße vom Tisch, stopfte eine Handvoll Gummibärchen in den Mund und bewegte den Cursor der Maus zum Öffnen der Mail.
Absender: eine Klinik in Léo, Burkina Faso. Verfasser: Dr. Jamal Guambo – wer auch immer das sein mochte. Rasch überflog er schmatzend den elektronischen Text, um dann den gesamten Inhalt konzentriert Zeile für Zeile neuerlich zu erfassen. Nachdem ihm die Kernaussage der Mitteilung bewusst wurde, schluckte er den Rest der Süßigkeit auf einmal und griff postwendend zum Hörer des Telefons.
Nach dreimaligem Läuten meldete sich eine verschlafene Stimme: »Ja.«
»Dr. Kleinschmidt, hier Schranz. Sie müssen unverzüglich in die Zentrale kommen.« Victor schilderte in wenigen Sätzen das Wesentliche der soeben eingetroffenen Mail und noch während er sprach, vernahm er ein Klicken in der Leitung.
Vierzig Minuten später stand Dr. Kleinschmidt, mit dem Mailausdruck in der Hand, in Schranz’ Büro. Dann begutachtete Victors Chef am Monitor die Bilddateien, die als weitere Anlagen der Mail aus Burkina Faso angefügt waren.
»Geben Sie W69 durch«, wies Dr. Kleinschmidt Schranz an. »In einer Stunde – Konferenzraum Schweiz.« Der Vorgesetzte stand bereits im Türrahmen, als er sich nochmals an Schranz wendete: »Leiten Sie die Mail umgehend an meinen Account.«
Bei »W69« handelte es sich um eine der Vorschriften oberster Priorität. Ein exakter Ablaufplan, wie in Krisensituationen vorzugehen sei und welche Personen informiert werden mussten. Victor Schranz öffnete ein Programm auf seinem Rechner und verfasste folgende Notiz: »W69 – Stopp – Raum Schweiz – Stopp – 05:30 Uhr – Stopp.« Nachdem er die Sende-Taste gedrückt hatte, ertönte ein schriller Signalton auf insgesamt zwölf mobilen Piepsern innerhalb des Stadtgebietes von Genf.
Kapitel 24: Der kranke Hotelgast
Hampton Inn, Soho, Manhattan
Milton, der blonde Chauffeur des Vorabends, erreichte pünktlich, kurz vor 11:00 Uhr, das Hampton Inn und stellte den Wagen auf einen Parkplatz mit dem Schild »Kurzparkzone«. Im Foyer des Hotels hielt er vergeblich Ausschau nach seinem Gast Tafari Ballo. Mr. Ballo war nirgends auszumachen und so ließ er sich entspannt auf einem der Sofas nieder, beobachtete das rege Treiben der Hotelgäste und schielte auf eine hochgewachsene Blondine, die mit weißem Pudel an der Leine nervös den Abtransport ihrer Koffer überwachte. Anschließend blätterte Milton desinteressiert in einem Modejournal, welches neben ihm auf einem gläsernen Tischchen lag.
Fünfzehn Minuten nach 11:00 Uhr legte er das Heft beiseite und ging zur Rezeption. »Guten Morgen, würden Sie bitte kurz im Zimmer von Mr. Ballo anrufen und mitteilen, dass Milton Miller in der Halle auf ihn wartet?«
Nachdem die farbige Rezeptionistin mit weiß lackierten Fingernägeln die Zimmernummer auf dem Telefon getippt hatte, erwartete sie geduldig lächelnd die Stimme des Hotelgastes. Nach mehrmaligem Klingeln unterbrach sie die Verbindung und versuchte es