»Genauso ist es doch auch bei mir, oder?«
»Sicher, mit dem Unterschied, dass du das Gelesene anscheinend anders im Kopf behältst, als es bei mir der Fall ist. Wenn ich mir etwas merken möchte, muss ich mich sehr konzentrieren. Auch muss ich den Text mehrmals lesen, bevor ich ihn behalte. Man nennt dies ‚auswendig lernen‘.«
Aha, dachte Chris. Bei mir ist also doch etwas kaputt im Kopf. Darauf wollte Miss Rudolph hinaus. Seine Verunsicherung wuchs. Miss Rudolph neigte den Kopf zur Seite und blickte Chris fragend an. »Was ist?«, fragte er.
»Okay, anders herum. Kannst du mir erklären, was sich vor deinem geistigen Auge abspielt, wenn du ein Buch weglegst, dessen Text aber auswendig deiner Schwester erzählst?«
»Der Text ist nicht weg. Ich sehe ihn doch noch vor mir, auch wenn ich das Buch nicht mehr vor mir habe.« Dem kleinen farblosen Chris lief eine Träne über die Wange. »Miss Rudolph, bin ich krank im Kopf? Ich weiß ja, dass ich anders bin. Aber für mich sind diese Dinge ganz normal. Muss ich ins Gefängnis, so wie Hannibal Lecter?«
Der jungen Lehrerin ging bei diesen Worten das Herz auf. Erst jetzt erkannte sie den gewaltigen Irrtum, dem sie und wahrscheinlich das gesamte soziale Umfeld von Chris aufgesessen waren. Ja, Chris hatte Fähigkeiten, die mit nichts und niemandem in seinem Alter zu vergleichen waren; dennoch: Chris war ein sechsjähriger Junge, der erkannte, dass er Gaben besaß, die ihn von anderen Menschen unterschieden. Und genau diese Tatsache machte ihm Angst! Vorsichtig nahm Miss Rudolph Chris in den Arm. Sie spürte die Wärme, die von ihm ausging, als er die schlanken Ärmchen um ihren Hals schlang. Nicht nur seine Körperwärme nahm sie wahr, vielmehr glaubte sie, die Kraft seiner Aura zu erleben. Liebevoll strich sie ihm durchs Haar.
»Zuallererst nennst du mich außerhalb der Schule Daniela, während der Schulstunden natürlich weiterhin Miss Rudolph, sonst wundern sich alle. Und nein, du musst keineswegs ins Gefängnis, wobei die Romanfigur Hannibal Lecter mehr in eine Psychiatrie gesteckt gehört, und ebenfalls nein, du bist kein bisschen krank im Kopf! Das Gegenteil ist der Fall. Mach dir darüber keine Sorgen. Weißt du, es ist ungefähr so: Stell dir vor, die ganze Welt wäre ein Vogelnest; wenn der Sperling Eier legt, dann schlüpfen nach wenigen Wochen ganz kleine, junge Sperlinge, Babysperlinge, vergleichbar mit den Menschen auf unserer Erde. Nun gibt es aber kleine Sperlinge, denen wachsen die Flügel etwas schneller, anderen wachsen sie eben ein wenig langsamer. Dennoch können sie alle irgendwann fliegen. Und nun wird ein Babysperling geboren, der Chris heißt. Nach nur wenigen Tagen hat er schon so ausladende Flügel, dass er weiter und höher fliegen kann als seine Spatzeneltern. Darüber sind aber die Spatzeneltern ganz, ganz glücklich, denn sie wissen, dass sie ein sehr besonderes Spatzenbaby haben.«
Chris löste sich aus der Umarmung, blickte stirnrunzelnd zu seiner Lehrerin und prustete los. Die Tränen, die nun aus seinen Augen schossen, waren keine der Bekümmerung, es waren die eines Lachanfalls. »Sie reden mit mir, als wäre ich ein kleines – ein kleines Babykind.«
Miss Rudolph musste ebenfalls lachen, da ihr bewusst wurde, wie albern sich die Worte für Chris angehört haben mussten. Doch eines hatte sie erreicht: Sie gewann einmal mehr Chris’ Vertrauen.
Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, versuchte Chris auf die Frage einzugehen, die er noch nicht beantwortet hatte: »Miss Rudolph, Daniela, ich sehe alles in meinem Kopf, so als läge das Buch aufgeschlagen vor mir. Selbst wenn die Buchseite einen Fleck gehabt hat, erkenne ich diesen. Mir reicht es völlig aus, wenn ich den Text einmal lese.«
»Siehst du, das ist für dich ganz normal. Andere – vielleicht gibt es ja Ausnahmen, die mir nicht bekannt sind – können das halt nicht. So hast du eben größere Flügel als wir. Wie groß sie tatsächlich sind, das erforschen wir beide gemeinsam. Okay?«
Chris nickte erleichtert.
Daniela stellte einen genauen Plan auf. Zuallererst ging es ihr um die Themenbereiche. Neben Lesen und Schreiben waren dies Algebra, Geometrie und auch Kunst. Zusätzlich schien ihr die Erfassung der Zusammenhänge von Bedeutung. Noch immer war es Daniela nicht klar, ob Chris über ein ausgeprägt fotografisches Gedächtnis verfügte, oder ob er den Kontext des Gelesenen korrekt zu deuten in der Lage war. Der Privatunterricht stellte für beide in den kommenden Monaten ein faszinierendes Abenteuer dar. Während Chris endlich ein Gegenüber hatte, mit dem er sich austauschen konnte, lernte Miss Rudolph, dass ihr Schützling weit mehr als ein fotografisches Gedächtnis besaß. Schlussfolgerungen, die er zog, regten selbst sie zu neuen Erkenntnissen an. Jeden Abend, wenn sie in ihrem kleinen Apartment saß, notierte sie gewissenhaft sämtliche Ereignisse und Fortschritte in einem tabellarischen Tagebuch. Das Ereignis, welches sie am darauffolgenden Tag protokollieren würde, sollte ihr den Atem rauben.
Kapitel 37: Ego
Seit seiner Geburt kannte Chris diese – wie er sie bezeichnete – Dämmerzustände. Weder schlief er in jenen Momenten, noch war er wach. Diese traumähnlichen Zustände machten ihm zu schaffen. Er verspürte keine Angst; vielmehr schien es so, als wäre er in besagtem Augenblick eine andere Person. Der gute Freund saß vor ihm in seinem Zimmer, während Chris ihn im Schneidersitz vom Bett aus betrachtete.
»Raphael ist verzweifelt. Noch immer wartet er auf den Befehl von Thron.« Michail sprach zu Chris, ohne die Lippen bewegen zu müssen.
»Er wird kommen, dessen bin ich sicher. Warum sonst wäre ich hier?«
»Du fehlst in Immerzeit. Raphael glaubt nicht an deine Existenz! Er verhöhnt und verspottet dich, während er weiterhin seine gottlose Gewalt sät.«
»Es ist keine gottlose Gewalt, Michail! Raphael ist die Kehrseite der Medaille. Die Duplizität. Wie sonst sollte Throns Verkündung Gewissheit werden? Das Gute muss wieder Gewicht erlangen! Nur, wie das Gute erkennen? Ohne Vergleich kannst du das Helle nicht vom Dunkel unterscheiden, das Süße vom Sauren.«
»Aber der Mensch sollte doch wissen, was Gut und Böse ist! Die Geschichte lehrt es ihn.«
»Was habe ich dich gelehrt? Was unterscheidet die Menschen von den Seelen in Immerzeit?«
Michail kannte die Antwort. »Der Egoismus des Einzelnen«, flüsterte Michail.
Kapitel 38: Chris’ Geheimnis
»Was ist los, Chris? Mir scheint, du hast heute keine so rechte Lust auf unsere Arbeit.«
Sie saßen im Kinderzimmer von Chris, welches so gar nicht dem eines Sechsjährigen entsprach. Vielmehr vermittelten die deckenhohe Regalwand mit den vielen Büchern wie auch das Notebook auf dem Schreibtisch den Eindruck des Arbeitszimmers eines Collegestudenten.
»Möchtest du, dass ich dir eine Limo hole, oder wollen wir eine Pause machen? Du kannst gerne ein wenig zu Meira in den Garten.«
Nach wie vor starrte Chris seitlich an Daniela vorbei und es schien, als nähme er die Anwesenheit seiner Lehrerin nicht wahr. Dann blickte er ihr direkt in die Augen. Seine roten Pupillen weiteten sich. »Du kannst ihn nicht sehen, stimmt’s?«
»Was meinst du, Chris?«
Sein Blick wandte sich kurz von ihr ab, dann sah er ihr abermals in die Augen. »Wir sind nicht alleine.«
»Du meinst, es ist noch jemand hier?«
Chris nickte.
Verwirrt blickte sich Daniela im Zimmer um. »Aber hier ist niemand.«
Chris’ kleines Ärmchen deutete auf die hintere Ecke des Raums. »Michail ist wieder da.«
»Michail?« Daniela wandte ihren Blick in Richtung Wand, auf die der Finger nach wie vor zeigte. »Du willst damit sagen, da steht jemand, den du sehen kannst?«
»Ja«, war die lapidare Antwort ihres Schützlings.
»Und wer ist dieser