Nachdem sich alle der Klasse vorgestellt hatten, verteilte Miss Rudolph weiße Blätter mit Buntstiften und bat ihre Schützlinge, den jeweiligen Sitznachbarn zu malen. Gelächter erfüllte das Klassenzimmer, als die Kinder an der Entstehung von vierzehn Portraits arbeiteten.
Chris fand, dass Alica ihn gut getroffen hatte. Sie löste das Problem der Darstellung seiner hellen Haut, indem sie nur die Konturen mit schwarzem Bleistift malte. So hatte der Betrachter es selbst in der Hand, die Hautfarbe zu bestimmen. Neben einer komisch aussehenden Nase, die mehr einer Litfaßsäule glich, stachen die Augen aus dem Bild hervor. Sie waren im Gegensatz zu der mit schwarzem Stift gemalten restlichen Zeichnung durch rot leuchtende Kreise dargestellt.
Als Miss Rudolph durch die Bankreihen lief, blieb sie am Platz neben Chris stehen. Das, was sie auf dem Bogen des Schülers gezeichnet sah, verschlug ihr den Atem. Das war kein Gesicht, wie es ein Sechsjähriger malt! Vielmehr glich es einem flüchtigen Entwurf der großen Meister des 18. oder 19. Jahrhunderts. An dem gekonnten Strich erkannte man auf Anhieb Alica, auch wenn sie auf dem Portrait wenigstens zwanzig Pfund weniger zu wiegen schien.
»Erstaunlich, Chris. Du hast verschwiegen, dass Malen ebenfalls zu deinen Hobbys zählt.« Sie drehte sich zur Klasse, als ein klangvoller Gong die Pause einläutete. »Kinder, ich gehe vor und zeige euch den Park, den ihr in den Pausen aufsuchen könnt. Nehmt eure Brote, oder was ihr sonst zu essen dabeihabt, mit.«
Lautes Gepolter und Stimmengewirr hatte den Flur außerhalb des Klassenzimmers eingenommen. Dutzende Schüler aller Altersstufen drängten Richtung Erdgeschoss, hinaus aufs freie Gelände. Nachdem sie draußen angekommen waren, packte Chris seinen Müsliriegel aus und bot Alica an, zu teilen.
»Danke, aber ich habe selbst etwas mit.« Sie zog ein Knäckebrot aus der Tasche, welches mit einer Scheibe trocken aussehender Wurst belegt war. Eindringlich sah Alica Chris an. »Woher weißt du, dass ich morgens in den Garten gehe und wie mein Hund heißt?«
»Ich weiß es eben«, grinste Chris und schob den Rest des Riegels in den Mund.
»Du weißt es eben?«, fragte Alica.
Chris nickte.
»Egal, woher du es weißt, danke.« Alica lächelte.
Kapitel 33: Der Besuch
Washington, D. C., Oktober 2022
»Bitte, kommen Sie herein.«
»Schön, dass Sie die Zeit gefunden haben, Mrs. Owen.«
»Wenn ich über etwas verfüge, dann ist es Zeit, Miss Rudolph«, grinste Sandra. »Na ja, die Kinder rauben sie einem schon.«
»Sind sie denn hier?«, fragte Miss Rudolph.
»Nein; Marc, mein Schwager, ist mit ihnen zum Footballspiel der Redskins gefahren. Somit haben wir alle Zeit der Welt. Wollen wir Tee auf der Terrasse trinken? Es ist ja noch angenehm warm im Freien.«
Miss Rudolph folgte Sandra in den Garten und nachdem diese den Tee eingeschenkt hatte, machten es sich beide in den Gartenstühlen bequem.
»Unsere Direktorin, Mrs. Doyle, hatte mich bei der Einschulung schon auf Chris aufmerksam gemacht. Sie schilderte mir das Gespräch, welches sie mit Ihnen geführt hatte.«
Sandra schwieg, denn bis hierher waren ihr diese Fakten bekannt.
»Sie fragen sich bestimmt, warum ich heute hier bin.«
»Ich hoffe, Sie werden es mir gleich verraten«, antwortete Sandra.
»Mrs. Owen, zugegeben, ich bin noch eine junge Lehrkraft; also, was ich damit sagen will, ist: Mein Erfahrungsschatz Schüler betreffend hält sich gewiss in Grenzen, doch man braucht kein Hellseher zu sein, um die fantastische Entwicklung von Chris zu erkennen.«
»Sie sagen es«, erwiderte Sandra, noch immer im Dunkeln tappend, worauf Miss Rudolph hinauswollte.
»Chris ist definitiv seinen Altersgenossen um Jahre voraus.«
»Um wie viele Jahre?«, hakte Sandra nach.
»Genau das ist der Punkt, warum ich um das Gespräch gebeten habe. Ich kann es Ihnen nicht sagen. Und eben das birgt eine enorme Gefahr.«
»Von welcher Gefahr sprechen Sie? Doch nicht von Chris ausgehend?«
»Nein, nein, verstehen Sie mich nicht falsch! Meine Befürchtung ist, dass Chris in die falschen Hände gerät. Noch nie habe ich einen sechsjährigen Jungen mit derart herausragenden Fähigkeiten erlebt. Tatsächlich existieren Einrichtungen, welche speziell für Hochbegabte konzipiert sind. Doch ist es wirklich das, was Sie für Ihren Sohn wollen?«
»Ich bin mir nicht sicher, Miss Rudolph. Was hätte es für Konsequenzen?«
»Wenn Sie meine ehrliche Meinung hören wollen, schockierende. Gleich einem Versuchskaninchen rauben wir ihm seine Jugend. Er mag zwar ausgesprochen intelligent sein, doch für die Entwicklung eines Kindes ist das soziale Umfeld der Familie und Freunde durch nichts anderes ersetzbar.«
»Sie glauben, man würde ihn mir wegnehmen?«
»Ich befürchte ja. Mein Gefühl sagt mir, Chris ist einzigartig. Es würde mich nicht wundern, wenn er mit sieben zu studieren beginnen würde.«
»Nun übertreiben Sie aber«, lächelte Sandra die Lehrerin an.
Doch Miss Rudolph blieb ernst. »Ich übertreibe nicht, Mrs. Owen.«
»Jetzt machen Sie mir Angst«, erwiderte Sandra.
»Dann sind wir schon zu zweit, doch ich habe einen Vorschlag.« Interessiert blickte Sandra zu Miss Rudolph. Diese beugte sich über den Tisch und flüsterte, als ob sie einer konspirativen Sitzung beiwohnte. »Was, wenn ich Chris in meine ganz besondere Obhut nehmen würde? Natürlich gemeinsam mit Ihnen. So wäre sichergestellt, dass wir allzeit die Kontrolle behalten und Chris nicht wie eine Laborratte behandelt wird.« Mit großen Augen blickte Miss Rudolph erwartungsvoll zu Sandra.
»Ich denke darüber nach und bespreche das mit der Familie. Im Besonderen mit Chris. Wie sähe denn Ihre – wie sagten Sie – Obhut aus?«
»Chris geht weiterhin in meine Klasse. Wir sollten mit ihm besprechen, dass er möglichst unauffällig bleibt. Um seine Talente kümmere ich mich in meiner Freizeit. Das würde bedeuten, dass wir uns häufiger sehen, da ich das nicht auf dem Schulgelände durchführen möchte. Am besten hier bei Ihnen. Wir haben Platz und Sie hätten ständig die Übersicht. Wie hört sich das für Sie an, Mrs. Owen?«
Sandra überlegte kurz. Dann sagte sie: »Sandra. Nennen Sie mich Sandra.«
Kapitel 34: Heimlichkeiten
Obwohl gerade einmal sechs Jahre alt, begriff Chris vom ersten Augenblick an, worauf seine Mutter und die Lehrerin Miss Rudolph abzielten. Daran, dass er in seinem Alter sowohl fließend schreiben als auch lesen konnte, fand er nichts Außergewöhnliches. Ebenso empfand er sein künstlerisches Geschick als Normalität, auch wenn er erkannte, dass gleichaltrige Kinder wesentlich unsicherer und unpräziser vorgingen. Für ihn schien die Welt auf den Kopf gestellt. Betrachtete man ihn als bemerkenswertes Genie, so empfand er vielmehr die Menschen um sich herum als … eben untalentierter.
»Ich soll mich im Unterricht nicht vordrängeln, sondern zurückhalten?«
»Ja, genau so gehen wir vor«, sagte Miss Rudolph. »Sicher langweilst du dich bei dem, was ich deinen Mitschülern als Unterrichtsstoff vermitteln werde. Doch du musst dieses Gefühl verbergen und so tun, als ob du wie die anderen Schritt für Schritt dazulernst.«
»Dann werde ich mich verstellen. Wird bestimmt spaßig«, lächelte Chris seine Mutter an.
»Nachmittags treffen wir uns viermal die Woche hier; dann werden wir dein vorhandenes Wissen und Können