Frieda, wie sie sich nun selbst nannte, lief anfangs ziellos durch die alten Straßen der merkwürdigen Stadt und dachte über die Worte des dicken Mannes nach. Von streng geflochtenen Zöpfen hatte er gesprochen und dass ihr Kleid wie ein Nachthemd aussähe. Nun ja, es war schlicht, das stimmte, aber Nachthemd, das ging ihr entschieden zu weit. Die Frauen, die ihr begegneten, hatten nicht solche Kleider an. Einige trugen sogar zerrissene Obergewänder und andere hatten Beinkleider wie Männer an. Dann gab es noch welche, die außer einem breiten Gürtel gar nichts an den Beinen trugen. Und die Haarfrisuren waren ganz anders, das stimmte. Doch Frieda hatte auch schon Mädchen mit Zöpfen gesehen. Die waren nicht so dick wie ihre, aber immerhin. Sie suchte nach einem Marktstand, an dem sie eventuell etwas anderes zum Anziehen bekommen konnte, als ihr Blick durch ein Fenster fiel und sie mehrere Frauen sah, die auf Stühlen saßen und sich offenbar von anderen Frauen die Haare schneiden ließen. Spontan betrat sie das Haus. Im Eingangsbereich erwartete sie eine junge Frau mit hellblauen Haaren.„Hallo“, flötete sie. „Was kann ich für Sie tun?“
Frieda schaute sich nur um und schwieg, denn sie hatte keine Ahnung was diese Person für sie tun konnte.
„Waschen, fönen, legen?“, fragte die Empfangsdame jetzt erneut und lächelte Frieda an.
„Sie haben ja tolles Haar. Ist das alles echt?“, plapperte sie weiter. Frieda verstand nicht, was die junge Frau meinte und schluckte verwirrt.
„Verstehen Sie unsere Sprache nicht?“, plauderte die andere fröhlich. „Leider beherrsche ich nicht allzu viele ausländische Worte. Du juh spick inglisch?“
„Ich verstehe Sie sehr gut“, sagte Frieda. „Ich war nur in Gedanken. Empfehlen Sie mir eine andere Frisur?“
Die Haarscheniderin konnte ihr Glück kaum fassen, an dieser prächtigen Mähne herumschnipseln zu dürfen und antwortete angesichts der sehr hohen Rechnung, die sie dafür zu stellen gedachte, freudig erregt: „Ich kann Ihnen ja mal einige Varianten vorstellen.“
„Gut“, sagte Frieda und nahm vor einem der Bildschirme in einem bequemen Sessel Platz.
Zwei Stunden und vier Computeranimationen später stand ihr Entschluss fest. Sie würde sich von einem Teil ihres Haupthaares verabschieden. Nebenbei bekam sie von der geschwätzigen Haarschneiderin viele Tipps, wie sie sich anziehen könnte. Auch was eine Dame im Theater tragen sollte, wusste die redselige Frau bis ins kleinste Detail zu beschreiben. Obwohl sie nach eigenen Angaben schon seit mehreren Jahren nicht mehr dort gewesen sei, kannte sie sich immer noch gut aus. Vor allem deshalb, weil sie eine Menge Kundinnen hatte, die regelmäßig die Premieren besuchten und dafür ständig auf der Suche nach neuer Garderobe und unbekannten Frisuren waren. Premieren waren Zusammenkünfte in diesem Haus, das sie hier Theater nannten, bei denen es darauf ankam, ein teureres Kleid als die Frau vom Chef ihres Mannes zu tragen und natürlich eine auffälligere Frisur. Die Frauen hüllten sich in Samt und Seide, ließen sich aufwendig frisieren und benötigten vor einem Besuch des Theaters mehr Zeit für die Pflege ihrer Fingernägel, als sie im letzten Jahr für die Erziehung ihrer Kinder aufgewendet hatten. Wenn das alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt war, hüllten sie sich zusätzlich in eine wohlriechende Wolke feinster Düfte und gingen ins Theater. Hier gab es drei Möglichkeiten, den Abend zu genießen. Erstens bei der Ankunft, dem rituellen Ablegen des Mantels und der ersten Präsentation der Garderobe. Zweitens in der sogenannten Pause, in der sie durch das gesamte Gebäude defilierten, sich möglichst oft vor Spiegeln drehten und an einem überteuerten Glas ‚Schampanja‘ nippten und drittens nach der Aufführung, wenn der Mantel zeremoniell wieder übergestreift wurde und man im Triumphzug das Theater verließ, um beim Italiener um die Ecke zu dinieren. Verschönern konnte dieses Erlebnis noch ein gut bekleideter, sauber rasierter Mann an der Seite dieser Frauen, aber das wäre nicht zwingend erforderlich, sagte die Haarschneiderin. Frieda dachte an Lehmann und überlegte, ob seine Begleitung ein Gewinn wäre. Sie könnte ja Geschichten erzählen, beteuerte die unablässig schwatzende Frau aus dem Frisiersalon und fing sofort an, ihre Versprechung in die Tat umzusetzen, während sie das dicke, blonde Haar unter einer Brause mit lauwarmem Wasser einweichte. Frieda war es recht, dass sie nicht viel reden musste und binnen kürzester Zeit eine unglaubliche Menge wichtigster, fraulicher Informationen erhielt. Ihre Laune besserte sich von Minute zu Minute. Allmählich machte ihr dieser Ausflug Spaß. Und bei den Göttern, das war es genau, was sie haben wollte – viel Spaß.
„Kindler, schwanke nicht so herum!“, forderte Horst Kindler sich selbst auf. Nach etlichen Stunden im Brettel-Fritz machte er sich auf den Heimweg zu seiner bestimmt schon ungeduldig wartenden Frau. Eigentlich hatte er nur am Mittag die Schuhe zum Schuster schaffen sollen. Das hatte er gemacht. Und Geld hatte er auch kaum ausgegeben. Schlimmstenfalls würde er ihr erzählen, er habe in der Kneipe Fußball geguckt. Er war stark angetrunken und allerbester Laune, denn während der diversen Gläser Bier, die der dicke Lehmann ihm spendiert hatte, war ihm eine prima Idee gekommen. Er würde seine überragenden Fähigkeiten als Hobbyfilmer dazu benutzen, ein Video der aktuellen Götterdämmerungs-Inszenierung des Stadttheaters zu drehen. Das ließe sich dann zweifellos an die Stadtverwaltung verkaufen oder ans Tourismus-Amt oder irgendwen sonst, den er überzeugen würde. Und dass er die Leute überzeugen würde, daran bestand für Horst Kindler überhaupt kein Zweifel. Schließlich wusste er mit Qualität zu begeistern, das war allgemein bekannt. Und er war in diesem Provinzkaff hier mit Sicherheit der beste Filmemacher.
Jedenfalls der beste, den er kannte.
Einen Haufen Geld würde er damit verdienen, jawohl, einen schönen Batzen rabenschwarzen Geldes, denn Kindler plante die immensen Einnahmen weder dem Finanzamt noch dem Arbeitsamt mitzuteilen. Seine finanziellen Sorgen hätten ein Ende, seine Frau brauchte nicht mehr herumzujammern und dürfte ihm das Geld für die Kneipe nicht mehr vorzählen, nur weil sie noch eine Stelle als Verkäuferin im Supermarkt hatte und er nichts.
Und dieses Weibsstück, von dem Lehmann dauernd gefaselt hatte, sollte angeblich genauso aussehen wie eine echte Walküre. Lehmann hatte sich ausgeschüttet vor Lachen und immer wieder gerufen: „Sieht aus wie eine echte Walküre und läuft hier so einfach durch die Stadt. Einfach so!“
Mehr fiel ihm nicht ein, dem Spinner. Aber ihm, Horst Kindler, war etwas eingefallen. Etwas Geniales war ihm eingefallen. Man müsste die Geschichte weiterspielen, die germanischen Götter durch die Altstadt laufen lassen und dann filmen. Eine so tolle Idee ließe sich bestimmt an RTL oder SAT1 verkaufen. Und er würde Regie führen und die Stadt käme wieder zu Ansehen und landesweiter Geltung und aller Dank gebührte ihm, Horst Kindler. Jawohl, genauso würde es sein. Und dann würden sie ihn bitten, ob er nicht Bürgermeister werden wollte. Aber er würde es nicht machen. Er würde sie erst zappeln lassen und ihnen Hoffnung machen und dann würde er sagen: „Nein, ich mache euch nicht die Drecksarbeit. Lange genug habt ihr auf mir herum getrampelt, ihr alle, ihr verschlagenen Opportunisten, Weicheier, Feiglinge. Ihr könnt mich alle mal, jawohl. Horst Kindler macht euch nicht den Dummen!“
Und dann würde er gehen, einfach so, seine Sachen packen und nach Hollywood auswandern und dort sein Glück als Filmemacher finden. Er rechnete sich in der Traumfabrik gute Chancen aus, wobei ihm die zwölf Bier kräftig halfen, die er intus hatte. Seine Hauptsorge war nur, ob er all die klugen Gedanken, die er gerade hatte, nicht morgen schon wieder vergessen hätte. Das war ihm leider schon einige Male passiert.
„Videofilm Walküre!“, lallte er deshalb auf dem Heimweg immer wieder vor sich hin. Wer ihm so begegnet wäre an diesem Frühlingsabend, der hätte es bei seinem Anblick nicht für möglich gehalten, dass da eben ein künftiger Erfolgsregisseur an ihm vorbeigetorkelt war. Eher hätte der gewöhnliche Betrachter auf einen armen Irren getippt, der neben offensichtlich schweren Gleichgewichtsstörungen auch einen Großteil seiner Zehen durch Amputation eingebüßt hatte.
Er schwankte wirklich sehr, der Herr Kindler.
„Ich weiß