„In der Walhalla-Szene?“, echote sie verblüfft.
„Ja, wenn Sie wollen, begleite ich Sie am Mittwochabend und zeige Ihnen die Oper und das ganze Theater und überhaupt.“
Sie starrte entgeistert in die wässrigen Augen des Dicken, die vom abgelagerten Fett schon zu Schlitzen verengt waren.
„Das wäre sehr freundlich von Ihnen“, stieß sie jedes Wort einzeln heraus.
„Oh, entschuldigen Sie vielmals, ich habe mich Ihnen ja noch gar nicht vorgestellt!“, tönte der Dicke entschuldigend. „Mein Name ist Lehmann, Lothar Lehmann.“
Steif verbeugte er sich und blickte die schöne, junge Frau erwartungsvoll an. Die begriff erst nicht, was er von ihr wollte und lächelte amüsiert zurück. Dann dämmerte ihr allmählich, worauf der Dicke wartete. Einen Namen, ihren Namen.
„Ach, äh, ja, so, Frieda … “ Sie blickte hilfesuchend auf den Theaterspielplan.
„Lusan, Frieda Lusan“, sagte sie schließlich.
„Na so ein Zufall!“, kreischte Lehmann, „So heißt doch auch eine Sopranistin hier am Theater. Sind Sie mit ihr verwandt? Auf Besuch in der großen Stadt?“
Frieda blickte ihn starr an.
„Ich dachte ja nur, wegen Ihrer Kleidung und der Frisur“, stammelte Lehmann, von dem durchdringenden Blick zutiefst verunsichert, der ihn aus den blauen Augen der hochgewachsenen Schönheit wie ein Laserstrahl getroffen hatte. Er merkte instinktiv, dass er etwas Falsches gesagt haben musste, denn die junge Dame zog die Stirn in Falten und schniefte bedrohlich durch die Nase. Ihre Worte schnitten wie frisch ausgepackte Rasierklingen in ein schlaffes Doppelkinn: „Was stimmt nicht mit meiner Kleidung und der Frisur?“
Dem dicken Lothar wurde es extrem heiß und er fühlte, wie sich sein Blutdruck zu ungeahnten Höhen aufschwang. Mühsam versuchte er, seine Gedanken zu ordnen und in brauchbare Worte zu fassen. Letzteres erwies sich allerdings als äußerst schwierig. „Zöpfe … armdick … Nachthemd“, murmelte er unverständlich.
„Wie meinen, Lehensmann?“, setzte die Frau, die sich Frieda nannte, unerbittlich nach.
„Die Zöpfe sind nicht so ganz, ich meine, das Kleid sieht aus wie … “, brabbelte Lehmann nuschelnd. Er wünschte, der gepflasterte Theatervorplatz würde sich öffnen, um ihn vorübergehend aufzunehmen.
“Könnten Sie etwas deutlicher werden!“, forderte Frieda ihn in einem Tonfall auf, der geeignet schien, größere Truppenverbände am Persischen Golf zu dirigieren. Der verwirrte Terrier lupfte eines seiner Ohren fragend gen Himmel. Friedas Brustkorb hob sich, ihr Busen ragte herausfordernd unter dem gescholtenen Bekleidungsstück hervor.
„Ach, was soll’s.“ Lehmann gab auf: „Ich meine ja nur, dass ich schon seit ewigen Zeiten niemand mehr mit solch dicken, streng geflochtenen Zöpfen gesehen habe. Und Ihr Kleid, entschuldigen Sie Verehrteste, aber es sieht aus wie ein Nachthemd.“
„Es würde mich interessieren, was Sie von der Ewigkeit wissen, Lehensmann?“, grollte Frieda und überprüfte den Sitz ihres Kleides.
„Mein Name ist Lehmann und nicht Lehnsmann“, versuchte der Gemaßregelte wieder Oberwasser zu erlangen.
„Und wenn schon“, polterte die junge Frau. „Haben Sie heute eigentlich schon mal in den Brunnen geschaut?“
„Bitte was?“, stotterte Lehmann.
„Ich meine, ob Sie heute schon mal Ihr eigenes Gesicht und Ihren Leib betrachtet haben?“, sagte Frieda schnell.
„Ähem, ich verstehe nicht ganz.“ Fragend blickte Lehmann die seltsame Dame an. Die rüstete sich zu einer geharnischten Antwort, besann sich dann aber anders und zwang sich zur Beherrschung.
„Wie auch immer“, Frieda wollte das Gespräch nun beenden. „Wir treffen uns also am Mittwochabend?“
„Pünktlich um sieben Uhr hier vor dem Theater, wenn es Ihnen recht ist, gnädige Frau“, rief Lehmann freudig. „Es wäre mir eine große Ehre, wenn ich Sie einladen dürfte“, plapperte er aufgeregt weiter.
„Dieser Wunsch sei Ihnen erfüllt. Und nun lassen Sie mich bitte allein.“
Lehmann griff nach Friedas Hand, aber die war schon hinter dem ziemlich einfachen und plump nach unten fallenden Kleides verschwunden.
An Lehmanns Leine war nun ein seelenlos vor sich hin starrendes Tier befestigt, das nicht mehr wusste, woran es sein Hundeleben ausrichten sollte.
„Komm“, sagte Lehmann und zog an der Leine, die sich nach zehn Metern straffte und den schlaffen Wotan wie ein Plüschtier hinter sich her zerrte.
„Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte der kleinere der beiden Männer und nestelte nervös an seinem Schulterumhang herum, der fast bis auf den Boden reichte.
„Ich habe die Reiseroute nicht bestimmt“, antwortete der andere mit einer Stimme, die so gefährlich knarrte wie eine gerade geöffnete Gefängnistür, durch die eine Horde wilder Barbaren ins Freie stürzt. „Ganz im Gegenteil habe ich mich mehrmals erkundigt, ob ihr Hilfe braucht“, fügte er hinzu, als sich die Gesprächspause unangenehm auszudehnen begann.
„Wenn du dich freundlichst erinnerst, ich war für die Reisebekleidung zuständig“, ergänzte der riesig wirkende Mann, als immer noch keine Antwort kam. Lässig stützte er sich auf sein großes Schwert, das gut geeignet schien, den ganzen sie umgebenden Wald in kürzester Zeit abzuholzen oder wenigstens so weit herunter zu schneiden, dass Fuchs und Hase schutzlos durchs Unterholz hoppeln müssten.
„Das macht mich auch nicht glücklicher“, schnappte der Kleinere jetzt zurück. „Dieser dämliche Umhang ist zu lang, das Schwert wiegt schwerer als ein Fass Met und der Helm drückt grausam am Schädel.“
Der Große blickte laut schnaubend möglichst weit weg.
„Aber das ist dem hohen Herrn ja egal, wie wir hier rumlaufen!“, setzte der Kleine seine Kritik fort. „Sich nach einem Gemälde anzuziehen, das in irgendeiner teutonischen Burg hängt und viel später gemalt worden ist, zeugt nicht gerade von göttlicher Eingebung“, schimpfte er. Jetzt reichte es dem Größeren endlich, denn er rammte sein Schwert etwa einen Meter tief in den Boden und donnerte los: „Ach, aber ist es denn nicht völlig egal, wie wir aussehen, wenn uns ohnehin niemand sehen kann? Ganz offensichtlich stehen wir doch hier an einem Weiher, den seit Jahrhunderten kein Mensch mehr betrachtet hat. Seit heute Morgen irren wir durch diesen Urwald und stoßen ab und an auf Ruinen einzelner Behausungen und Reste jämmerlicher Dörfer.“ Er klatschte eine Mücke auf seinem Brustharnisch breit und fuhr gereizt fort: „Manchmal glaube ich, wir sind vielleicht am richtigen Platz, aber mit dem Zeitpunkt unserer Reise stimmt etwas nicht.“
Der Kleine war inzwischen wieder losgegangen und hatte sich das Schwert über die Schulter geworfen. Resigniert schaute der größere der beiden Männer seinem Gefährten nach. Dann rückte er die Streitaxt in seinem Gürtel zurecht, zog das Schwert mit einem einzigen, dynamischen Schwung aus dem lehmigen Erdreich und machte sich ebenfalls auf den Weg. Er glaubte, früher schon einmal an dieser, jetzt so dicht bewaldeten Stelle mit dem winzigen Flüsschen gewesen zu sein, über den immerzu der Nebel waberte. Nur wann das war, wollte ihm einfach nicht einfallen. Seufzend kickte er einen Stein mit seinen Fellstiefeln aus dem Weg. Die nahegelegene Eiche, in die der Stein eindrang, ächzte bedenklich. In ihrem hohlen Inneren klammerte sich ein Eichhörnchen mit seinen Krallen verschreckt an das weiche Holz, als das Geschoss den morschen Stamm durchschlug.
Es war nun schon das dritte Mal, dass er im Schlaf gestört wurde. Langsam bereute er es, hier Platz genommen und nicht einfach zu Hause abgewartet zu haben, bis die erste Wut seines Vaters verraucht war. Allerdings wäre es zu Hause auch nicht