Barbarossa blinzelte ihm verblüfft entgegen. Wenn ein Chronist zugegen gewesen wäre, hätte er vielleicht blumigere Worte gefunden und geschrieben: Der große Kaiser Barbarossa war sprachlos und erstarrte offenen Mundes vor ungläubigem Erstaunen.
Lothar Lehmann war glücklich. Er hatte eine Frau kennen gelernt. Er hatte schon früher einmal eine Frau kennen gelernt, aber das war sehr lange her. Eigentlich hatte er schon zweimal eine Frau kennen gelernt, wenn er es ganz genau betrachtete. Aber das mit der zweiten Frau war so lange her, dass ihm ihr Name nicht mehr einfallen wollte. ‚Ewig ist das schon her‘, sinnierte er, während ihn seine Füße automatisch in den Brettel-Fritz trugen.
Dieses alte Gasthaus hatte früher einmal den Namen ‚Zum Alten Fritz‘ gehabt. Warum die Schenke so hieß, wusste heute keiner mehr mit Bestimmtheit zu sagen. Der Legende nach soll ein Preußenkönig auf seiner Reise durch den Harz einst darin genächtigt haben. Es ist aber ebenso gut möglich, dass diese Geschichte ihre Entstehung einem langen Winterabend ohne Gäste in der Gaststube verdankt. Während der Zeit der kommunistischen Diktatur hatte der Wirt die Insignien des preußischen Imperialismus selbstverständlich ausmerzen müssen, was er dadurch bewerkstelligte, dass er das Wort ‚Alten‘ mit einem großen Brett zunagelte. Fortan hieß die Kneipe bei ihren Gästen ‚Zum Brettel-Fritz‘. Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Experiments hatte der Wirt das verwitterte Brett sofort wieder abgemacht, aber den Namen Brettel-Fritz wurde er nicht mehr los.
Lothar Lehmann setzte sich auf einen der Barhocker. Um diese Tageszeit war im Brettel-Fritz noch kein Betrieb, der Wirt schlief noch oder machte Einkäufe oder was ein Wirt sonst am Nachmittag um drei Uhr tut. Lothar war das Herz so voll, er musste sich jemandem mitteilen. Außer dem arbeitslosen Horst Kindler war niemand im Gastraum, den er kannte. Der saß allein an einem der Ecktische und betrachtete düster sein Bierglas. Hinter dem Tresen stand Ramona, die Aushilfskellnerin, die am Mittag den Laden aufschloss und den Nachmittag über die wenigen Gäste bediente, die nichts Besseres zu tun hatten als schon am hellerlichten Tag mit dem Trinken zu beginnen.
„Hallo Ramona, mach mir ’n Bier, ich setze mich bei Horst“, sagte Lehmann und bemerkte sofort, dass er eine falsche Präposition verwendet hatte. So etwas nervte ihn bei anderen Leuten immer furchtbar, weil Lehmann die Meinung vertrat, es ginge nichts über die exakt angewendete, deutsche Grammatik. Wieso ihm das eben passiert war, konnte er sich nicht erklären. Ramona bemerkte nichts und überprüfte demonstrativ den Glanz ihres Nagellacks im Licht der Tresenbeleuchtung. Lehmann war aufgeregt. Seltsame, ungeahnte Gefühle durchforsteten seine Magengegend, machten am Darm kehrt und fleuchten zurück zum Herzen, woher sie nach Lothar Lehmanns Verständnis auch gekommen sein mussten. ‚Oh, wie wohl ist mir am Morgen‘, wollte er singen, verwarf den Gedanken aber angesichts der vorgerückten Tageszeit als unsinnig.
„Na, Horst“, eröffnete er stattdessen freudig und laut das Gespräch. „Was macht die Kunst? Hast du wieder ein großes Projekt am Laufen?“
Lehmann konnte den Angesprochenen eigentlich nicht leiden, aber er war momentan der einzig verfügbare Bekannte im Brettel-Fritz. Er wusste auch, dass man Horst Kindler erst einmal selbst erzählen lassen musste, ehe man ihm etwas mitteilen konnte. Kindler war von sich sehr überzeugt und meinte, er könne in dieser Stadt vom Bürgermeister über den Theaterintendanten bis hin zum Sparkassendirektor alle ersetzen und würde diese Jobs hundertprozentig besser machen als die Pfeifen, die gerade tatsächlich damit beschäftigt waren. Er würde es nämlich so gut machen, dass für die ganze Welt offensichtlich würde, was er alles drauf hatte. Aber hier waren einfach alle gegen ihn, es lief eine Riesenverschwörung in diesem Kaff, in dem er vor über 44 Jahren geboren worden war. Irgendwann würde er es den ganzen angepassten und faulen Bonzen zeigen, die ihm keine Chance gaben und ständig nur Zeugnisse und Referenzen sehen wollten. Dabei hielt er sich für einen Verfolgten des stalinistisch-kommunistischen Regimes. Schon als Kind in der Schule hatten ihn diese verdammten, bolschewistischen Lehrer betrogen und ihm schlechte Zensuren gegeben. Nur weil er als einziger die Wahrheit gesagt und nicht bei den Genossen gekratzt hatte.
So oder so ähnlich erzählte Horst Kindler seine Lebensgeschichte, der Grad an Ausschmückungen war abhängig vom Alkoholpegel und der Anzahl spendabler Zuhörer. Wenn er keine Lust hatte, über sein erlittenes Ungemach zu lamentieren, brachte er sein Leben kurz und bündig auf den Punkt und benötigte dafür nicht mehr als zwei Worte: „Tolle Wurscht!“
Heute war er von diesem finalen Punkt der Kommunikationsverweigerung nur ein kurzes Stück entfernt und antwortete Lehmann: „Ach, lass mich in Ruhe, alter Sacktreter.“
Lothar schielte auf Kindlers Zettel und erkannte drei Striche. Also, so schätzte er, saß Kindler seit gut einer Stunde hier. Da hätte er die Frau ja fast sehen können, von seinem Platz am Fenster aus.
„Hast du die Frau mit dem komischen Kleid und den dicken, blonden Zöpfen auf dem Theatervorplatz gesehen?“, fragte er Kindler aufgeregt.
„Meinst du diese Ausgeflippte mit den zwei dicken, blonden Zöpfen und dem komischen Kleid?“, fragte der zurück und als Lehmann heftig mit dem Kopf nickte, sagte Horst Kindler: „Nee, die hab ich nicht gesehen.“
Er lachte laut meckernd über seinen tollen Witz, als er Lehmanns hoffnungsvolles Gesicht sich in eine enttäuschte Grimasse verwandeln sah. Lehmann hasste diesen primitiven Humor, der immer wieder bezeugte, was für ein niveauloser Einfaltspinsel dieser Kindler war. Keine Bildung, kein Benehmen, kein Esprit. Vermutlich hätte sich die geheimnisvolle Fremde mit so einem wie Kindler überhaupt nicht eingelassen und wenn Kindler sie nach der Uhrzeit gefragt hätte, dann hätte sie ihn vorsichtshalber belogen, damit er sich keine falschen Hoffnungen machte.
„Tja, mein lieber Kindler“, grinste Lehmann angestrengt. „Da hast du was verpasst.“
„Ach, verpiss dich“, brummelte Kindler, trank einen Schluck Bier und beobachtete Lehmann aus den Augenwinkeln.
„Na, nun sag schon was mit der Alten war“, ermunterte er Lehmann schließlich.
Aber Lehmann schwieg und tat so, als wäre er beleidigt. Er spielte das nicht gut, denn obwohl er so gern ein Schauspieler geworden wäre, hatte er stets ein sehr mangelhaftes Talent bewiesen. Er war ein Übertreiber, der immer gleich ins Melodramatische abrutschte und den Anschein erweckte, als wäre er eben einem Courts-Mahler-Roman entsprungen.
‚Edel sei der Mensch, hilfreich und gut’, musste Kindler auf einmal denken und wusste überhaupt nicht, warum. Wahrscheinlich aber, weil dieser Lehmann wieder große Oper spielte. Und als hätte der seine Gedanken gelesen, platzte Lehmann heraus: „Ich gehe jedenfalls am Mittwoch mit ihr in die Oper. Und überhaupt ist sie die interessanteste und spannendste Frau, die mir je begegnet ist.“
Kindler machte sich auf einen langen Nachmittag gefasst und wog die Chancen ab, das eine oder andere Bier spendiert zu bekommen, wenn er nur so tat, als höre er diesem dicken Spinner geduldig zu.
Unter dem Tisch träumte ein kleiner Hund von einem großen, weißen, mehrere Zentimeter langen, röhrenförmigen Teil mit Verdickungen an beiden Enden. Im Traum versuchte er sich zu erinnern, was er damit anfangen könnte. Warum er es vergraben und nach einer Woche wieder ausbuddeln würde. Es wollte ihm einfach nicht einfallen.
Das Eichhörnchen hatte sich von dem Schock erholt und schaute jetzt neugierig durch das Loch, das der Stein in den morschen Stamm geschlagen hatte. Wer hatte ihm diesen Schrecken eingejagt? Es waren Zweibeiner! So, wie sie die Alten manchmal noch beschrieben hatten. Zweibeiner, die früher hier alles umgekrempelt hatten, die Wälder abgeholzt, die Auen trockengelegt, die Wiesen mit hartem, stinkenden Zeug zugeschmiert hatten. Nun waren also zwei von denen, die seit vielen Generationen nicht mehr gesichtet worden waren, wieder