Ein schönes Beispiel ist diese Existenzgeldgeschichte. Es wird eine Debatte ausgelöst und dann geben sich die Leute zu erkennen, die so dermaßen dagegen sind, dass du dich irgendwann fragst: Wieso eigentlich? Der Kampf, der von jeder neuen Forderung ausgelöst wird, ist wichtig. Dabei lernen die Leute etwas. Das politisiert Menschen.
Wenn du mit Leuten etwas zusammen machen willst, zum Beispiel eine Zeitschrift, gibt es selbstverständlich immer gleich 500 Argumente, warum es schiefgehen kann. Jeder Weg ist eine potenzielle Sackgasse. Die Leute machen es trotzdem ständig wieder. Erstens, weil sie es wollen und sagen: Wir werfen die Flinte nicht ins Korn, wenn wir auf Widerstände stoßen. Zweitens, weil sie es optimieren, während sie daran arbeiten. Im Arbeitsprozess stellt sich sehr schnell heraus, was geht und was nicht. Dann fragt man: Wenn es so nicht geht, wie geht es anders?
Dieselbe Sorte Argumente, die heute gegen die Realisierbarkeit des Sozialismus vorgetragen wird, ist vor Jahrhunderten gegen die Behauptung vorgebracht worden, dass so etwas wie der Kapitalismus je klappen könnte. Die klügsten reaktionären Zeitgenossen der Französischen Revolution begründen dir absolut stringent, warum das Leben ohne Adel nicht klappen kann.
Der wichtigste Unterschied zwischen Marx und Hegel ist der, dass Hegel sagt: Wenn wir uns lange genug anschauen, was wir wissen, werden wir wissen, wie es weitergehen wird. Marx bringt da den sogenannten subjektiven Faktor rein. Das heißt, für diesen Prozess spielt es eine Rolle, was die Leute wollen, was sie tun und was sie, während sie es tun, lernen.
Sie gelten als glühender Anhänger Lenins. Warum schreiben Sie kein Buch über Lenin, sondern ein Suhrkamp-Taschenbuch über seine Kritikerin Rosa Luxemburg?
Ich halte von niemandem so viel für richtig wie von Lenin. Von dem, was sich, bereinigt um historische Spezifika, in Thesenform bringen und heute verwenden lässt, sind das so 65 Prozent. Wenn man sagen würde: Lenin hat zehn Gebote hinterlassen, würde ich sagen: Davon sind sechseinhalb richtig. Sachen wie: Nehmt euch vor den Gewerkschaften in Acht, weil … Oder: Ein bisschen Zentralismus hat noch keinem geschadet.
An Rosa Luxemburg beeindruckt mich, wie sie Lenin mal ein bisschen von rechts und mal ein bisschen von links angreift. Sie synthetisiert aus dem Engels- oder Plechanow-Marxismus, dem Volkstümlertum ihres Geliebten und politischen Erziehers Leo Jogiches und aus der konkreten Situation mit ihrer unglaublichen Flexibilität eine eigene Position. Die ist dann anders als die von Lenin.
Am Ende der deutschen Revolution, in der konkreten Situation, zeigt Luxemburg zwei Dinge auf: a) Lenin ist in den Grundsätzen der Organisation bestätigt. Und b) Nichts ist so gefährlich wie eine intelligente SPD-Leitung als Instrument der Konterrevolution innerhalb der Linken. Das haben die frühen deutschen Leninisten damals unterschätzt.
Wann ist das Buch fertig?
Seit Februar rechnen wir mit dem Erscheinen im übernächsten Monat. Ich habe für kein Buch bei Suhrkamp so lange gebraucht wie für diese 120 Seiten. Leben- und Werkteil sind fertig. Bis auf die Zitatkästen. Die banal serviceorientierte Reihe BasisBiographien hat dieses Erfordernis. Und leider sind die Sätze von Frau Luxemburg immer dann sehr lang, wenn sie richtig gut wird. In dem Buch Akkumulation des Kapitals oder in der Junius-Broschüre ist die gesamte Dialektik in einem Absatz enthalten, und dieser Absatz ist ein Satz. Das ist die Gesamtdarstellung der Position. Mir fällt es schwer zu entscheiden, was da verzichtbar ist.
Das zweite Problem ist der Wirkungsteil. Seit er fertig ist, erscheint jeden Monat ein neues Buch oder ein Text in Zeitschriften wie International Socialism, Historical Materialism, Argument oder auf irgendeiner Website, und ich denke: Ah, alles noch mal anders. Im Wirkungsteil sage ich, was wir von Rosa Luxemburg jetzt brauchen. Das ändert sich jeden verdammten Monat. Das heißt: Jemand muss uns stoppen, sonst erscheint das Buch einen Monat nach der Revolution, weil man erst dann weiß, was man von Rosa Luxemburg wirklich gebraucht hat.
Für eine ernsthafte Diskussion des Gesellschaftssystems ist in den großen Medien wenig Platz. Unbeirrt nutzen Sie jede Gelegenheit, diese Diskussion dort anzustoßen. Ist dabei nicht die Rolle eines Exoten für Sie vorgesehen, der alles sagen darf, weil man ihn im Grunde nicht ernst nehmen muss?
Es gibt dieses Kasperl- oder Lendenschurz-Problem, Sie sagen Exot. Dazu fällt mir Ulrike Meinhof ein. In ihren letzten Kolumnen schreibt sie mit großer Unzufriedenheit über sich als Figur, die das System, das sie zum Einsturz bringen will, auspolstert oder abfedert. Man lässt sie schreiben, und die Repräsentanten des Systems können sich zugute halten, wie liberal es doch sei. Die Meinhof hat dann den Schritt in die Jugendarbeit gemacht, um wenigstens ein paar Jugendlichen zu helfen, die in Heimen schikaniert wurden. Sie hat sie dazu gebracht, ein bisschen Rabatz zu machen, und gab ihnen den Schutz, den sie ihnen als Medienfigur geben konnte. Ich nenne das den Franz-von-Assisi-Weg. Die Meinhof hat das offenbar auch nicht zufriedengestellt. Sie ist in den Untergrund gegangen. Und eine exotische Randerscheinung geblieben, die sich dafür aufopfert, dass letztlich alles so bleibt, wie es ist. Dass sie stellvertretend verbrannt wurde, hat die Situation vielleicht sogar verschlimmert. Die Alternativen Waffe-in-die-Hand-Nehmen und Sozialarbeit-Machen sind beide nicht zufriedenstellend.
Es gibt also Lücken im System, in denen Sie daran arbeiten, dass es überwunden wird?
Kein System präsentiert sich als völlig verrückter Vampir. Jedes stellt seine Vorteile heraus. Der autoritärste Herrscher sagt: Ich beschütze euch vor einem X, vor der Kälte, dem Hungertod oder den bösen anderen, die hinter den sieben Bergen die Zähne fletschen. Nur weil ich so ein Hund bin, haben die Feinde uns noch nicht angegriffen.
Das System, in dem wir leben, behauptet von sich, pluralistisch zu sein. Es beim Wort zu nehmen ist meiner Erfahrung nach oft der einzige Weg. Ähnlich wie bei der Religionskritik, die im Mittelalter zunächst von Leuten kommt, die den religiösen Kram ernst nehmen und Textkritik machen. Sehr verkürzt ausgedrückt, ist Erasmus von Rotterdam schon der halbe Luther, Luther schon eine Art Diderot und so weiter. Insofern haben Sie recht, wenn Sie nach der Lücke im System fragen. Bei Shakespeare gibt es den Hofnarren. Der klingelt, wenn er vorbeikommt. Dafür darf er die Wahrheit sagen. Ich bin dafür, das etwas ernster zu nehmen. Sie reden sich ein, dass dieser Pluralismus existiert. Also habe ich im Moment nicht das Problem, dass ich nichts sagen darf.
Anders wäre es, wenn sich gesellschaftlich etwas bewegen würde. Gäbe es eine Sowjetunion, hätte ich die Hälfte der Sachen, die ich in der FAZ geschrieben habe, niemals schreiben dürfen. Ich darf das, weil es keine gesellschaftliche Kraft gibt, der ich damit den Rücken stärke. Die denken: Der macht sich komische Gedanken, aber befürchten nicht, dass sie einen von denen, die da unten krakeelen und mit Steinen schmeißen, bei sich im vierten Stock haben. Der liebe Frank Schirrmacher sagt über Peter Hacks Sachen wie: fabelhafter Dichter, aber halt verrückt.
Wenn du nun mit der Schelle auf dem Kopf zum Produzieren von Ideen abkommandiert wirst, kannst du immerhin ausprobieren, ob du auch richtige Ideen produzieren kannst. Das sind nur Ideen. Auf dieses »nur« lege ich großen Wert. Sie müssen immer noch zünden. Jemand muss es tatsächlich machen.
Wenn Sie also fragen, wo ich die Chancen für eine Kritik sehe, in diesem System praktisch zu werden, antworte ich dialektisch, zweifaltig: a) nirgends, weil das System so aufgebaut ist, dass es sich nicht absichtlich selber abschafft, und b) überall.
Nirgends heißt, niemand wird sagen: Hier, bitte schön, ist die Planstelle für den Umsturz. Von hier aus kannst du uns vernichten. Auf der anderen Seite gibt es viele Gelegenheiten, etwas Richtiges zu sagen. Zum Beispiel für den braven Gewerkschaftsfunktionär, der dafür da ist, die Sozialpartnerschaft aufrechtzuerhalten, und es in einer günstigen Situation einfach mal nicht macht. Unter Umständen erfordert es mehr Mut, in einer Talkshow eine sogenannte dumme Frage zu stellen, als ein 800 Seiten langes marxistisches Buch zu schreiben. Wenn man zum richtigen Zeitpunkt einen Hartmut Mehdorn oder wen auch immer fragt, ganz ernsthaft: An diesem Ostblock war die ganze Überwacherei doch so schlimm – wie ist das denn jetzt bei euch? Da verliert jemand seinen Job, weil er zwei Euro Flaschenpfand unterschlagen hat, und das findet ihr heraus,