Die in globalem Maßstab ständig wachsende Ungleichheit, die Folgen des Klimawandels, drohende Verteilungskämpfe um Trinkwasser, Bodenschätze, fossile Energieträger und nicht zuletzt die kaum überstandene Weltwirtschaftskrise machen die Notwendigkeit von politischen Alternativen unübersehbar. Konkrete Utopien in diesem Sinne vorzuschlagen und öffentlich zu vermitteln, das ist in der bürgerlichen Öffentlichkeit traditionell die Aufgabe von Intellektuellen. Doch ausgerechnet zu einer Zeit, wo politische Zukunftsvisionen wieder vermehrt nachgefragt werden, ist diese Position im Feld des öffentlichen Diskurses mehr oder weniger verwaist. Parteien und Gewerkschaften haben längst darauf verzichtet, eigene Geistesarbeiter heranzubilden. Die Universitäten spannen junge Sozial- und Geisteswissenschaftler heute viel zu sehr in den Alltagsbetrieb und in Karrierezwänge ein, als dass diese noch daran denken könnten, sich öffentlich einzumischen. Zwischen Lehrverpflichtungen, Drittmitteleinwerbung, Gremienarbeit und wissenschaftsinternen Publikationszwängen verlieren sie beinahe zwangsläufig den Blick für die großen Zusammenhänge. Journalisten, die gar nicht so selten den Ehrgeiz entwickeln, selbst in die Fußstapfen der großen Intellektuellen zu treten, geben sich häufig damit zufrieden, im Auftrag von Think-Tanks als Lautsprecher der Konzerninteressen zu fungieren. Wirklich innovative Ideen oder fortschrittliche gesellschaftliche Entwürfe sucht man bei ihnen in der Regel vergeblich.
Doch die neoliberale Hegemonie hat erste Risse bekommen. Innenpolitisch ist mit der Linkspartei eine Kraft entstanden, die das sozialdemokratische Erbe antritt und die öffentlichen Foren für kritisches Denken deutlich vermehrt. An den Universitäten entstehen Marx-Lesekreise. Und immer mehr Schriftsteller nutzen die neu geschaffenen Möglichkeiten, sich für das linke Projekt zu engagieren. Tendenz steigend. Mit dem Aufwind, den sowohl die globalisierungskritische Bewegung als auch die parteipolitische Linke seit einigen Jahren erfahren, werden ihre Themen auch von den großen Medien wieder aufgegriffen. Die Ratlosigkeit vorgeblicher Experten angesichts der Weltwirtschaftskrise hat diese Tendenz noch befördert. Schriftsteller werden wieder häufiger eingeladen, das Für und Wider politischer Vorschläge aus ihrer Sicht zu kommentieren und eigene Impulse zu geben. Sie sind keine Experten, die zahlenden Auftraggebern Gutachterwissen präsentieren, sondern Bürger, die das allgemeine Wohl im Auge haben. Die Spielräume für kritische Interventionen sind wieder etwas größer geworden. Als Thea Dorn, Krimi-Autorin, Fernsehmoderatorin und vermeintliche Hoffnungsträgerin eines erneuerten Feminismus18, 25 prominente Künstler und Schriftsteller, die den möglichst raschen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan forderten19, als Repräsentanten eines neuen »Vulgärpazifismus«20 diffamierte, gab man dem marxistischen Schriftsteller Dietmar Dath in der Zeit genügend Raum für eine kluge Replik.21
Was sich engagieren heute bedeutet
Von 2007 bis 2010 habe ich Gespräche mit engagierten Schriftstellern und Liedschreibern geführt, die den Grundstock bilden für dieses Interviewbuch.22 Die Gespräche geben unter anderem Auskunft darüber, wie diese Autoren heute zum Begriff des Engagements stehen. Für den österreichischen Romancier Robert Menasse hat sich die öffentliche Rolle des Schriftstellers nach dem Ende des Kalten Kriegs in einer Hinsicht deutlich geändert. Heute sei das Engagement nicht auf die Unterstützung kommunistischer oder sozialistischer Parteien beschränkt. Es sollte zur Grundausstattung jedes denkenden Menschen gehören. »Aber eben nicht in diesem parteipolitischen, sondern in einem umfassenderen Sinne, der nichts anderes bedeutet, als unausgesetzt das Defizit abzuschreiten zwischen gesellschaftlicher Realität und gesellschaftlichem Selbstbild.«23 Die oft gestellte Frage, warum ein Dichter im Hinblick auf gesellschaftliche und politische Fragen eine qualifiziertere Meinung haben soll als andere Staatsbürger, beantwortete Menasse wie folgt: »Die Frage ist vielmehr, ob es in der Welt der individuellen Interessen doch auch Individuen gibt, die zumindest theoretisch die Möglichkeiten haben, die Welt ohne Klassen-, Standes- und Schichtinteressen zu sehen, und die Chance, das, was sie tun und denken, öffentlich so zu kommunizieren, dass es über alle soziologischen Grenzen hinweg von allgemeinem Interesse ist. Der Einzige, der aufgrund seiner Lebens- und Produktionsbedingungen die Möglichkeit dazu hat, ist der Künstler, der freie Geist, der frei ist von allen Abhängigkeiten und Zwängen, wie sie für alle anderen Berufe gelten.«24
Auch Menasses deutscher Kollege Dietmar Dath sieht eine einschneidende Änderung nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus. Zuvor hätten im Westen die Autoren von der Abteilung Dritter Weg die Debatten geprägt. »Dieses Kontingent von nachdenklichen Menschen war damals wichtig. Sie mussten irgendwie links sein, also das Gute im Menschen wollen, etwas gegen Franz Josef Strauß und bestimmte Unternehmer sagen, aber auf jeden Fall nicht für die bösen Russen sein. Dafür gab es eine Menge Geld, Aufmerksamkeit und Mikrofone, die man nicht den ganzen Tag vollbrüllen konnte mit: Fresst! Kauft! Arbeitet!«25 Von nichts anderem sei damals geredet worden »als von einem Dritten Weg zwischen dem bösen Ostblock und dem liberalen, aber kalten und unmenschlichen Westen. Diese kritischen Intellektuellen, das war die Abteilung Dritter Weg«26 . Dath misst dem kritischen Intellektuellen heute zwar keine Bedeutung mehr zu, die über den Exotenwert eines Experten für bestimmte Spezialfragen, zum Beispiel für den Kommunismus, hinausgeht. Doch auch diese »Rolle des Experten der Rote-Mützen-Sekte im ökumenischen Konzert der komischen Sekten« kann seiner Ansicht nach genutzt werden, um ein gutes Argument öffentlich wirksam zu platzieren: »Denn selbst da könnte einmal jemand sagen: Dieser Zeuge Jehovas da ist eigentlich ganz vernünftig«.
Einige Schriftsteller reflektierten im Verlauf der Gespräche über die Wirkungschancen ihres Engagements. Denn diese sind abhängig von dem politischen Resonanzraum, den die Literatur historisch jeweils hat. »Wenn es eine soziale Widerstandsbewegung gibt, braucht diese auch Literatur, um sich zu verständigen, um andere zu gewinnen und um sich nach außen zu vermitteln. Das kann eine Literatur sein, die große gesellschaftliche Zusammenhänge in Romanen oder Essays sichtbar macht und Möglichkeiten des Widerstands beispielhaft zeigt. Oder eine aktuell eingreifende, wie bestimmte Brecht-Stücke oder -Gedichte oder solche Kampftexte, wie ich sie früher geschrieben habe«, sagt der Kölner Schriftsteller Erasmus Schöfer27. Sein Berliner Kollege Michael Wildenhain sieht das ähnlich: »Brecht, insbesondere mit seinen Lehrstücken, ist nicht vorstellbar ohne die Situation Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre, ohne eine sehr starke kommunistische Partei und die entsprechenden Publikationsorgane, die sich um sie rankten. Es gab also einen Resonanzraum für die Literatur, aus dem das Echo herausschallte. Heiner Müller ist nicht vorstellbar ohne die DDR. Er wurde zwar auch sehr stark im Westen rezipiert, aber nur vor dem Hintergrund dieses real existierenden Resonanzraumes. Ich glaube, politische Literatur braucht immer diesen Resonanzraum. Wenn dieser schmal und dünn ist wie im Moment, dann wird es schwer.«28 Unter diesen Voraussetzungen liegt es für einen oppositionell orientierten Autor nahe, sich selbst als Archivar eines widerständigen Wissens zu definieren, das von späteren Generationen genutzt werden kann. Michael Wildenhain hofft daher, dass seine Bücher einen Flaschenpostcharakter entfalten können. Gerade Romane könnten zu zeitgeschichtlichen Dokumenten werden, die in literarischer Form eine Wahrhaftigkeit erreichen, die sonst nur schwer möglich sei. Erasmus Schöfer hält mit seinem Romanzyklus Die Kinder des Sysifos auf diese Weise das demokratische Erbe des Aufbruchs von 1968 bewusst.
Der Schriftsteller Ilija Trojanow kann wie sein Kölner Kollege mit einer l’art pour l’art nichts anfangen. »Ich will andere Menschen erreichen, erfreuen, beglücken, bewegen und verändern. Wenn ich auch nur im Entferntesten daran zweifeln würde, dass das möglich ist, würde ich nicht schreiben bzw. nicht publizieren. […] Ich habe nur ein Talent. Ich kann ganz gut mit dem Wort umgehen. Das ist sozusagen meine einzige Waffe, und die benutze ich auch.«29 Juli Zeh wiederum mischt sich ein, weil sie die privilegierte Möglichkeit hat, in Zeitungen zu veröffentlichen und in Interviews ihre Meinung zu sagen: »Ich bin in der luxuriösen Situation, eine Art Plattform für Ansichten zu haben, und die nutze ich.«30
Das politische Engagement der Autoren zeigt sich sowohl in ihrer eigentlichen literarischen